Saving Private Ryan oder: Um jeden Preis am Pfarramt festhalten?

Meine Bilder (Foto: Verena Salvisberg)
Pfarrermangel, Erneuerung der Pfarrausbildung («nur» auf Niveau Fachhochschule?), eine kirchliche Praxis im freien Fall, eine berufliche Ausbildung zum Pfarramt, die den aktuellen Bedürfnissen des kirchlichen Auftrags gerecht sei, sind nur einige der Stichworte in diesem Plädoyer von Blaise Menu, der auf dem Hintergrund seiner Genfer Praxis dringende Fragen zur Neuorientierung der Ausbildung für die von der Kirche heute benötigten Ämter.
Blaise Menu,
Saving Private Ryan
Der oben erwähnte Kriegsfilm von Steven Spielberg (1998) ist mir seiner realistischen Eingangsszene (Landung der Alliierten in der Normandie) und der packenden Handlung wegen in lebhafter Erinnerung geblieben: Ein von einem bedachten und menschlichen Captain angeführter Trupp soll den letzten nicht gefallenen von vier Brüdern einer Familie suchen gehen und ihn heil in die USA zurückbringen. Allerdings bleibt vom Trupp selbst beim Ausführen des Auftrags nur noch einer zurück. Die Geschichte spielt mit den Emotionen und stellt eindringlich die Frage nach dem Sinn des Opfers.

Geht es um die Rettung des «Pfarramts»?
Analogien zur heutigen Situation des Pfarramts sind nicht von der Hand zu weisen. Nachdem fünf Jahrhunderte lang an ihm herumgezerrt wurde, um reformierten Ansprüchen zu genügen, bleibt vom Pfarrberuf kaum mehr als eine kraftlose Hülle übrig – trotz allem Einfallsreichtum und Mut zur Erneuerung der Ausbildung auf akademischer Grundlage, trotz allem guten Willen zur beruflichen Besitzstandwahrung einer Profession, deren Umrisse in der Konfrontation mit der aktuellen Wirklichkeit in Kirche und Gesellschaft zwangsläufig kaum mehr zu erkennen sind. Warum denn unbedingt daran festhalten als herausragendem Bezugspunkt des (vielgestaltigen und geteilten) kirchlichen Amts zur Verbreitung des Evangeliums und zur Verkündigung von Gottes Wort? Von den in der Ekklesiologie Calvins weiter vorgesehenen Ämtern (Älteste, Doktor und, wo vorhanden, Diakon) bleibt bloss ein blasser Widerschein, der bei der Funktion des ἐπίσκοπή unter synodalen Voraussetzungen gleich ganz wegfällt. Ist das Pfarramt allenfalls die heilige Kuh des Protestantismus, das unantastbar Ministerielle, das letzte Tabu unserer Ekklesiologie? Lasst uns die Frage unverblümt stellen: Braucht die Kirche überhaupt noch Pfarrer/innen?

Pastorales Primat?
Eine schon vierzig Jahre dauernde Krise
Wer wagt schon einzuräumen – es sei denn mit dem Schauder, den das Sakrileg beschert, das man sich im kleinen Rahmen erlaubt –, dass die berufliche Ausbildung zum Pfarramt den aktuellen Bedürfnissen des kirchlichen Auftrags nicht mehr wirklich gerecht wird, und dies trotz einer ausgezeichneten, aber in ihren Ansprüchen widersprüchlichen Fundierung? Seit gut und gerne vierzig Jahren ist das Problem erkannt, mehr oder weniger gut aufgenommene und dann schubladisierte Berichte haben es beschrieben, und es wird an Lösungen gebastelt, um die betroffenen Partner – theologische Fakultäten und Landeskirchen – loyal zufriedenzustellen. Bedeutet die jüngste Krise in der französischsprachigen Vikariatsausbildung (Office protestant de la formation) das endgültige Aus dieser Übereinkünfte oder kommt es einmal mehr zu einem Kompromiss, der es allen recht machen will?

Eine Zerresissprobe
Die Frage ist so unverblümt wie der Überdruss gross angesichts des immer tieferen Grabens, den unsere Zeit zwischen den spirituellen Bedürfnissen der Leute und dem Zusammenbrechen kirchlicher Zugehörigkeit aufreisst, und angesichts des immer drängenderen Mangels an fähigen Theologiepraktiker/innen anstelle der vielen Theologinnen und Theologen, mit denen unsere Landeskirchen auskommen müssen, obschon ihr unbefriedigender Gesundheitszustand ihr Wirken alles in allem in Frage stellt.

Vor dem allgemeinen Desinteresse reicht das «Verkündigen» nicht mehr aus
Wie lange gibt das Pfarramt im Kirchenamt noch den Ton an? Das Wort zu verkünden, reicht schon lange nicht mehr: Wenn die reformierten Kirchen in der Schweiz heute angesichts mangelnden Pfarrernachwuchses und zunehmenden Desinteresses all derer, die ohne uns erwachsen werden, mit abgrundtiefen Ängsten konfrontiert sind, dann deshalb, weil sie aus gesellschaftlich lange unbestrittener Warte ihren eigenen Gründungsmythos verkannt und dessen Avatare unterschätzt haben.

Gnadenlose Statistiken
Über die Qualität jeglicher entinstitutionalisierter und individualisierter spiritueller Suche kann man sich selbstverständlich mokieren, aber Statistiken sind gnadenlos, und die kirchliche Praxis ist im freien Fall. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wissen wir uns nicht mehr zu helfen. Wir sind machtlos und schauen benommen zu, wie sich eine Welt im Nichts auflöst, die wir in Ehren halten. Von Scheinwerfern geblendet, erstarren wir wie scheues Wild, ohne zu begreifen, dass uns das entgegenstrahlende Licht nicht wohlgesinnt ist.

Die Moderne mitgeprägt. Opfer der Moderne
Der zweifellos überragende und zugleich widersprüchlichste Sieg des Protestantismus angesichts religiöser Verfremdungen ist denn auch gleich dessen Verhängnis: Wir vermögen die Moderne, zu deren Aufkommen wir in erheblichem Mass beigetragen und um deren Konsolidierung wir uns gegen allerlei Aberglaube sowie wörtliche, unsinnige, ausschliessliche oder gar mörderische Bibelinterpretationen bemüht haben, nicht mehr zu entziffern, und wissen auch nicht, wie wir auf sie einwirken sollen. Wir wollten vor Gott freie Menschen – und wurden über unsere Erwartungen hinaus erhört. Und jetzt?

Ausbildungsgänge diversifizieren?
Bloss Fachhochschule? Mit welcher Qualität?
Die anwendungsorientierte Fachhochschulausbildung steht für die Erschütterung der akademischen Gewissheiten der abtretenden Generation: Das Auftauchen und die Qualität der Fachhochschulen neben den Universitäten stellen einen (abgesehen von der Macht der Gewohnheit und der Geschichte, von knappen Mitteln oder einer fehlenden Vision, von gut abgestützten Ansprüchen, vom institutionellen Image, von lokalen Gegebenheiten usw.) unbegreiflicherweise verpassten Wendepunkt dar. Ausgehend von der akademischen Theologie und ohne auch nur ein Jota von ihrem kritischen Fundament abzurücken, wäre ein FH-Ausbildungsgang zu schaffen gewesen, und zwar mit viel höherem Anspruch als jenem der aktuellen Erleichterungen, die weniger den Kirchen als den vom Rückgang der Studentenzahlen bedrohten Fakultäten dienen. Allerdings sind sich die Kirchen bezüglich ihrer Erwartungen zweifellos selbst nicht im Klaren bzw. beschränken sie sich auf einen althergebrachten gutschweizerischen Kompromiss zum Profil des Pfarramts.
Ebenso haben die Bestrebungen der selbsternannten TFH-pro (het-pro.ch) oberhalb von Vevey eine unvoreingenommene Debatte verunmöglicht und das Denkbare oder gar Unumgängliche von vornherein ausgeschlossen – selbsternannt deshalb, weil sich die THF-pro als (theologische) Hochschule gibt und definiert, als ob sie Teil des Westschweizer Hochschulnetzes sei, was zwar ihrem Anspruch, aber nicht ihrer Qualität entspricht. Die Auseinandersetzung ist hier nicht grundlos sehr gespalten und die Aussichten sind getrübt von einer Situation, in der zwei protestantische Gattungen aneinander geraten, eine, die auf ihre akademische Tradition ausgerichtet ist und die reformierte Welt getragen hat, die andere, die auf Referenzen und Neigungen des evangelikalen Protestantismus beruht. Die Unterschiede und Spannungen zeigen sich insbesondere an der Tragweite der kritischen Lesart biblischer Texte und ihrer theologischen und ethischen Folgen.

Welche Anpassung?
Also passen die theologischen Fakultäten ihre klassische Ausbildung an, um für mehr Pfarrernachwuchs zu sorgen und zugleich selbst attraktiv zu bleiben. Sie machen dies mit begrüssenswerter Entschlossenheit und Effizienz: sowohl in der deutschen als auch in der französischen Schweiz haben ihre Bestrebungen Gewicht und sind interessant. Quest (Konkordat), Ithaka (BeJuSo) oder verkürzte Ausbildung mit Bachelor-Abschluss (Romandie) bieten zweckdienliche Alternativen für Spätberufene oder im Hinblick auf eine berufliche Neuorientierung, ohne dass hier Schnellbleichen angeboten würden, wie manche bereits befürchten.

Nur ein Quasi-Pfarramt?
Angesichts des angekündigten Pfarrermangels allenfalls heikler könnten Angebote oder Alternativen sein, die aus kirchlicher Sicht den Zugang zu einem Quasi-Pfarramt ermöglichen, ohne die üblichen Anforderungen an die Grundausbildung aufrechtzuerhalten. Diakonen, Seelsorgern, darunter etwa den «Amtsbeauftragten» der Genfer Kirche, oder gar soziokulturellen Animatoren wird Verantwortung für die Kirchgemeinde oder üblicherweise von Pfarrerinnen oder Pfarrern ausgeübte Tätigkeiten übertragen, insbesondere sakramentale, ohne dass sie dafür ordiniert werden. Darin Schlampigkeit zu sehen, wäre allerdings falsch. In Genf erstaunen unklar umrissene Ämter seit bald zwei Generationen niemanden mehr, aber für Verwirrung sorgt dieser Umgang doch und dürfte auf umso mehr Ablehnung stossen, je weiter Richtung Ostschweiz man geht und insofern das Pfarramt in den Köpfen der Leute und in reformierten Vorstellungen den Kern des kirchlichen Auftrags verkörpert, währenddem den anderen Ämtern nicht zwingend dieselbe kirchliche Anerkennung zuteil wird (Ordination vs. Anerkennung als Amtsträger ohne Ordination bzw. blosse Anstellung) und sie nicht selten bloss als Hilfskräfte, Sozialdienst, Notlösung oder spezielles Engagement gelten. Eine Spur pastorale Herablassung inklusive.

Hartnäckiges, überholtes Standesbewusstsein
In einem quasi standesgemässen Reflex am Pfarrberuf als einem jahrhundertealten, alles überragenden amtlichen Bezugspunkt mehr oder weniger klar und offen festzuhalten, wird als Haltung immer anachronistischer.

Biblische Sprachen als Kirchengaranten?
Noch einmal: die Altsprachen
Unter diesen Voraussetzungen und bezogen auf ein erleichtertes akademisches Curriculum ist das herkömmliche Beharren auf den beiden alten, extrem energiefressenden Sprachen (Hebräisch und Griechisch) zuungunsten von Kompetenzen, die dem Auftrag der Kirche und damit dem Pastoraldienst unter den aktuellen Bedingungen und im heutigen Alltag unserer Kirchen dienlicher wären, fragwürdig und mit allen Folgen für das Überleben des «puren» Pfarrberufs neu zu beurteilen. Ja, ausgehend von den theologischen Fakultäten und ihrem Beitrag mit hohem Mehrwert ist es an der Zeit, parallele Berufsbildungswege mit gleichwertigem Niveau zu eröffnen, die die Pfarrperspektive anders einschätzen als man es seit Jahrzehnten – und vielleicht gar seit jeher im reformierten Protestantismus – getan hat.

Meine (Genfer) Erfahrung
Dieser bilderstürmerische Ansatz ist noch persönlich einzuordnen: Ich sehe an meinem Weg durchs Pfarramt, ausgehend von einem anspruchsvollen Universitätsstudium, dem ich so dankbar wie kritisch gegenüberstehe, und der üblichen beruflichen Ausbildung, dass ich nur ungenügend auf die heutigen kirchlichen Herausforderungen vorbereitet wurde – und ein wenig hilflos bin. Daran hätten Weiterbildungsangebote – wenn denn tatsächlich fundierte dazu vorhanden gewesen wären und sie einem strategischen Imperativ des Dachverbands der französischsprachigen reformierten Landeskirchen (CER) zur Aufdatierung seiner grössten Berufsgruppe entsprochen hätten – nichts zu ändern vermögen.

Sind wir die letzten Pfarrer?
Gehöre ich also zu den letzten Berufsleuten der alten Kirchen- und Pfarrerwelt? Gut möglich. Ich träume denn auch von einer neuen Generation von Amtsträgerinnen und Amtsträgern, die den Anforderungen unseres Auftrags und den Bedürfnissen des tatsächlichen oder potenziellen Publikums, das nur noch am Rand jenem meiner Anfänge vor einem Vierteljahrhundert gleicht, besser entspricht. Weiterhin am aktuellen Modell als konventionellem Bezugspunkt festzuhalten, ist in meinen Augen müssig, unabhängig von allem akademischen Aufwand dafür und obschon ich meinem Beruf leidenschaftlich verbunden bin. Ohne den Untergangspropheten geben zu wollen, gehe ich davon aus, dass unser Beruf in einer Generation bedeutungslos wird oder gleich ganz verschwindet, wenn wir uns keinen Ruck geben und erhebliche Änderungen anstossen. Wir werden es anderen, theologisch schlechter Qualifizierten (zum Pastor werden manche ohne viel Aufwand, wenn sie sich nicht gleich selbst dazu ernennen), allzu Oberflächlichen und in ihrer Hermeneutik zu Konventionellen oder aber weniger Bibelfesten, dafür aber kommunikativ umso Versierteren überlassen, sich um jene zu kümmern, für die wir kompetent hätten da sein müssen. Die Hirten wussten die Schafe ihrer Herde nicht mehr zu lesen und haben sie andern überlassen, die sie bisweilen mehr jagen als ihnen voranzugehen.

Pluralität der Pfarrämter anerkennen
Noch einmal: ausgehend nicht von den herkömmlichen Bedürfnissen der Kirchen, sondern von den Bedürfnissen der von ihrem Auftrag tatsächlich oder potenziell Betroffenen ist es allerhöchste Zeit, die Berufsbildungswege im protestantischen Universum zu diversifizieren: neue Formen zu finden, neue Bezeichnungen für Ämter zu anerkennen, die unserer Zeit entsprechen, statt die Leute in kirchliche Muster zu pressen, die lange relevant waren und ihre Sternstunden hatten, aber in unserem Schweizer Kontext angesichts des Zusammenbrechens kirchlicher Strukturen und später Umschulungen unabhängig von der Sprachzugehörigkeit ausgedient haben.

Spätberufene und neue Kompetenzen
Salbungsvoll das heute gängige Erlernen der beiden Sprachen (Hebräisch und Griechisch) zu verlangen, hat nur bezogen auf die abgelaufene Pfarramtsepoche Sinn, zu der ich entschieden und hoffnungslos zugleich gehöre, und vernachlässigt das Vorhandensein leistungsfähiger Software-Tools, einer Alternative, die uns nicht zur Verfügung stand, um ein gewisses Verständnis zu entwickeln, ohne uns gleich für kompetent zu halten. Dies gilt insbesondere für die Ausbildung sogenannt spät Berufener, denen ein (nicht in allen Teilen) entschlacktes Curriculum offensteht. Es ist durchaus vorstellbar, dass es nach wie vor Pfarrerinnen und Pfarrer gibt, die nach dem aktuellen Kanon ausgebildet wurden und die man auch weiterhin als solche bezeichnen wird. Wünschenswert ist und die Weichen sind auch so zu stellen, dass parallel dazu gut ausgebildete

Neue Theologiepraktiker/innen für den kirchlichen Auftrag heute
Theologiepraktiker/innen auf den Arbeitsmarkt kommen, die sich für bestimmte grundlegende Aspekte der universitären Theologie auf die oben Erwähnten abstützen können und zugleich für andere Formen kirchlichen Engagements zur Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat eingesetzt werden. Gemeinsam werden sie, wie das hier und dort bereits der Fall ist, den pastoralen Auftrag der Kirche umsetzen, ohne dass dieser Auftrag vor dem unausgesprochenen, aber effektiven Hintergrund des Pfarramts allein konzipiert ist. Wagen wir endlich eine Perspektive, welche die Subsidiarität der Kompetenzen, der Bildungswege und der anerkannten Ämter zulässt, akzeptiert und fördert.

Heute endlich die Herausforderumgen unserer Zeit annehmen
Gerade aus dieser breit gefassten pastoralen Perspektive muss der Schweizerische Reformierte Pfarrverein, ohne dabei seine Identität und sein Erbe zu verleugnen, über kurz oder lang seine Interessens- und Kompetenzbasis erweitern, und dies nicht zuletzt seit der Auflösung des Dachverbands Sozialdiakon/in. Die Zeit des Abschottens und des Rückzugs ist vorbei. Jetzt geht es darum, die Eigenheiten, Vorteile und Grenzen aller Beteiligten zu anerkennen und Ämter zuzulassen.


Blaise Menu, Pfarrer der Reformierten Kirche Genf und Co-Präsident SRPV/SPS.

Wir freuen uns auf den ersten Beitrag.