Vorträge

Thurgau (Foto: Richard Ladner)

Thurgau (Foto: Richard Ladner)

Vom Wert der Theologie Einführung «Wert der Theologie»

Grund-Idee: Wertschätzung des Pfarramts hat mit Wertschätzung der Theologie zu tun – bzw. der theologischen Ausbildung eines landeskirchlichen Pfarrers bzw. einer lkn. Pfarrerin.
Was ist der «Mehrwert», den ein universitär ausgebildeter Theologe/Theologin einbringen kann in das Leben und Wachsen einer Gemeinde?

Ausgehend von der Wahrnehmung, dass Theologie eher negative Konnotationen.
Vielleicht hat man über Eure Predigt – zumindest am Anfang – auch einmal gesagt, dass sie «zu theologisch» gewesen sei. Kaum je wird jemand bemängelt haben, dass sie zu WENIG theologisch gewesen sei...
Was meinen die Leute dabei mit «theologisch»? Wohl akademisch, theoretisch, lebensfern, «abgehoben» (wie ja überhaupt gerade auf dem Land «Studierte» nicht unbedingt einen guten Ruf haben).
Natürlich ist ein Nachteil unserer Ausbildung, dass unsere Sprache manchmal etwas akademisch (oder dogmatisch) ist (eine déformation professionelle). Da unterscheiden sich landeskirchliche Pfarrer wohl von freikirchlichen Predigern.
Aber gibt es nicht auch eine positive Seite unserer Ausbildung?
Auch ein Arzt vermittelt seine Diagnosen oft in einer schwer verständlichen Sprache; deshalb wird aber kaum jemand den Wert des Medizin-Studiums in Frage stellen. Ganz zu schweigen von anderen Fächern.
Da nimmt man eine etwas akademisch-wissenschaftliche Sprache zumindest eher in Kauf. Warum? Weil doch das Vertrauen da ist, dass darin richtige und wichtige, u.U. lebenswichtige Dinge vermittelt werden.
Führt zum zweiten Punkt:
2) Gerade das traut man der Theologie weniger zu. Im Unterschied zu anderen Fächern hat es die Theologie ja mit etwas kaum Greif- und Überprüfbarem zu tun. Sieht das nicht jeder einfach anders? Ist nicht alles subjektiv? Hat nicht auch der Pfarrer einfach nur seine eigene Meinung über Gott und die Welt?
Da haben wir natürlich zunächst eine Antwort darauf: wir spekulieren ja nicht ins Blaue hinein, sondern wir – gerade wir Evangelischen – halten uns dabei an die Bibel als Grundlage von allem, was wir über Gott sagen, als Richtschnur unserer Theo-Logie.
Allerdings verschiebt sich dann das Problem: viele Menschen denken, die Auslegung der Bibel sei doch auch nur subjektiv. Gerade die Unterschiede und auch Streitigkeiten zwischen den verschiedenen Konfessionen, was die Auslegung der Bibel betrifft, verstärkt oder bestätigt diese Meinung.
Ferner gilt die Bibel ja weitum – gerade auch in der Wissenschaft – als bloss «menschliches Wort». Also selbst wenn es da eindeutige Botschaften gibt, so heisst das ja nicht, dass diese richtig und für uns wichtig sind, eine verlässliche Grundlage für unseren Glauben und unser Leben.
Und gerade in der präzisen und sachgemässen Auslegung der Bibel haben die akademisch ausgebildeten Theologen wahrscheinlich einen Vorteil – oder sollten es zumindest. So dass ich fast sagen würde, die Wertschätzung der Theologie hätte letztlich mit der Wertschätzung der Bibel zu tun.
Umgekehrt könnte die Wertschätzung der Bibel aber auch zunehmen, wenn es uns gelingt, zu zeigen, wie die Wahrnehmung der Bibel eben doch wichtig ist und einen Unterschied macht in unserem Leben – auch dem Leben und der Leitung einer Kirchgemeinde.
Dass es uns auch gelingt, die Bibel bzw. das darin enthaltene Wort Gottes ALS GANZES zur Sprache zu bringen. Denn da liegt doch EINE Stärke, die wir haben sollten gegenüber den einfachen und einseitigen Botschaften.

Nach diesen Anregungen geht es nun um den Wert und Nutzen der Theologie in den verschiedenen Berufsfeldern des Pfarramts.
Zunächst – Sarah – bei der Frage des Verhältnisses von Theologie und Diakonie, die ja zur Zeit recht virulent ist; wir denken auch an die Motion Konf-Jahr.
Dann - Richard – in Bezug auf die Haupt-Tätigkeiten des Pfarrers: Predigt, Unterricht, Seelsorge.
Dann – Sandra – in Bezug auf die Mitwirkung des Pfarrers/der Pfarrerin als Theologe/Theologin in der Gemeindeleitung.
Das sollen auch die Anregungen und Inputs sein für die Gesprächsgruppen danach.

KIRCHE UND STAAT IM KANTON THURGAU Um das heutige Gefüge zwischen Kirche und Staat verstehen zu können, müssen wir auf die Zeit der Entstehung der römischen Reichskirche im 4. Jh. zurückblicken. Sie ist der entscheidungsvollste bis in die Gegenwart nachwirkende Wendepunkt der Geschichte des Christentums und der staatlichen Entwicklung in Europa überhaupt, obwohl die erste Staatskirche nicht in Rom, sondern in Armenien, einige Jahre vor Rom, eingeführt wurde.

Nachdem der 300jährige Versuch, die "Christenfrage" durch Ausrottung des Christentums zu lösen, gescheitert war, blieb den Politikern des römischen Reiches nur noch der andere Weg übrig, nämlich das Christentum von Staates wegen anzuerkennen, oder mindestens zu dulden. Diese Wendung der kaiserlichen Religionspolitik wurde 313 durch Konstantin eingeleitet. Da aber das Christentum anders als die polytheistischen Religionen neben sich keinen anderen Gott oder heidnischen Kult dulden kann, wurde aus einer religio licitas, also aus der geduldetetn Religion, unter Kaiser Theodosius dem Großen (380) die alleinberechtigte Religion. Es kam zur Aufrichtung der Staatskirche, die alle anderen heidnischen Kulte im Reich unterdrückte. Damit aber wurde die antike Herrscherverehrung und, was noch viel folgenschwerer war, die kaiserliche Herrschaft über die Kirche mit in Kauf genommen. So wurde die Kirche zu einem Regierungsinstrument für das kaiserliche Regiment, was zunächst im Osten zum großen byzantinischen Reich führte. Noch um 500 war die abendländische Kirche nicht viel mehr als ein Anhang der morgenländischen.
In den folgenden Jahrhunderten hat sich ein gewaltiger Umschwung der gesamten Lage vollzogen. Das kirchliche Schwergewicht verlagerte sich entschieden nach Westen. Und dies geschah erstens durch den totalen Zerfall des römischen Reiches im Westen und zweitens durch die Staatenbildung der Westgerma nen und ihre Eingliederung in die katholische Kirche. Dieser Prozess begann ca. 500 mit der Bekehrung der Franken durch Chlodowech. Einerseits nun erzielte die katholische Kirche unter den germanisch-romanischen Völkern eine stärkere Stellung als in der hellenistisch-römischen Spätantike, da sie in der germanischen Welt auf noch unverbildete Völker stieß, deren Kultur in vieler Hinsicht noch primitiv und für die Beeinflussung durch eine ältere Kulturwelt offen war, andererseits aber wurde der katholische Gedanke einer Universalkirche geschwächt, da durch die verschiedenen urwüchsigen Sitten der einzelnen Völker bei den Germanen, Franken, Westgoten, Langobarden und Angelsachsen landeskirchliche Zustände entstanden. Erst unter Karl dem Großen (um 800), kam es zum ersten Mal zu einer fränkischen Landeskirche, die sich über einen großen Teil des Abendlandes erstreckte. So wurde der Frankenkönig Schutzherr und Leiter der Kirche des Abendlandes. Damit war das Fundament für die Staatskirche in Europa gelegt. Der König übte starken Einfluß auf die kirchlichen Angelegenheiten aus und verwandte die Kirche zu staatlichen Zwecken. Die alten Provinzialsynoden wurden durch Landes- oder Reichssynoden ersetzt und eine große Zahl von Kirchen waren sogenannte "Eigenkirchen" des Königs. Die Bischöfe wurden meistens aus dem Adel rekrutiert und bildeten bald eine kirchliche Aristokratie mit großem Einfluß auf den König und den Staat. Die wirtschaftliche Grundlage der Kirche wurde gefestigt durch die gesetzliche Verankerung der Abgabe des Zehnten und es kam zur Einführung der Pfarrsprengel, der sogenannten Parochie mit einem Parochus (sprich Pfarrer), deren geographische Struktur heute noch bei uns weiterlebt. Jede Parochie hatte das Taufrecht, einen eigenen Friedhof und das Recht auf den Zehnten. Durch Stiftungen reicher Klöster entstehen immer mehr neue Parochien, deren Priester durch die Klöster eingesetzt wurden und die die Grundstücke der jeweiligen Parochie als Lehen erhielten. So auch zum Beispiel die schon im 9. Jahrhundert vom Kloster Reichenau aus gesetzte Pfarrei Gachnang.

Diese Verflechtung zwischen Staatsgefüge und Kirche, mit ihren Höhen und Tiefen, konnte sich so lange ohne schwerwiegende Erschütterungen halten, bis es durch die Reformation Anfang des 16. Jahrunderts zur Kirchenspaltung kam, also im Staatsgefüge der Fürstentümer zwei Kirchen den Anspruch auf sogenannte Staatskirche erhoben. Dies Dilemma wurde vorübergehend gelöst durch die Übereinkunft zwischen Katholiken und Reformierten, daß der Glaube der jeweiligen Regierung auch der Glaube der Bevölkerung sein solle, nach dem Motto cuius regio, eius religio, was dazu führte, daß es rein reformierte Stände (wie Bern, Zürich oder Basel) und rein katholische Stände (wie Schwyz, Luzern, Uri u. a.) gab, es mit anderen Worten zu reformierten oder katholischen Staatskirchen kam.

Schwieriger zeigte sich das Problem bei jenen Ständen, die Untertanen der 7 alten Stände waren, und turnusgemäß von Landvögten verschiedener Konfession regiert wurden und in denen die sogenannten paritätischen Kirchen politisch eingeführt wurden. Da dadurch in einem politischen Gefüge zwei Kirchen existierten, wütete der Glaubenskrieg oft ungehindert oder durch eine der Konfessionen unterstützt, weiter, so daß manchmal lokale Glaubensstreitigkeiten den Frieden ganzer Regionen bedrohte, ja sogar ausländische Kriegsmächte in die Streitigkeiten mit hineinzogen, wie z. B. der Gachnanger Handel von 1610, als wegen der Hartnäckigkeit der Gachnanger Kirchbürger in den Glaubenskrieg zwischen reformierter Bevölkerung und katholischem Gerichtsherrn um eines Holzkreuzes Willen, das in einer abgelegenen Ecke des Friedhofes, wo die katholischen Glaubensgenossen großzügigerweise ihre Toten bestatten durften, von den Reformierten immer wieder weggeräumt und den Katholiken über Nacht immer wieder aufgestellt wurde, die Streitmacht Frankreich mit hineingezogen wurde.

In diesen Ständen war auch die Organisation der einzelnen Pfarrpfründen sehr kompliziert und manchmal fast widersinnig. So lag die Kollatur der Kirchgemeinde Gachnang bis 1540 beim Abt der Reichenau und bis 1798 beim Bischof von Konstanz, was zur Folge hatte, daß der Gachnanger reformierte Pfarrer von Zürich bestimmt wurde aber vom Abt der Reichenau, beziehungsweise vom Konstanzer Bischof bestätigt werden mußte, da die Pfründe immer noch im Besitz der Reichenau und später des Konstanzer Bistums lag und an den Pfarrer nach altem Recht als Lehen vergeben werden mußte, er also von der katholischen Kirche für die Ausübung seines Amtes finanziert wurde. Diese Bestätigung holte sich so mancher Pfarrer mit Hilfe der altbewährten Methode der Bestechung. So ist zum Beispiel im Gachnanger Pfarrarchiv beurkundet, daß sich Pfarrer Hans Heinrich Bernhart 1585 die Pfarrpfründe Gachnang mit Hilfe zweier Goldbecher im Werte von 90 Gulden und dem Zehnten von Kefikon beim reichenauischen Amtmann in Frauenfeld, Joachim Rüeppli, erschlichen hatte, wofür dieser ihm die Bestätigung von Konstanz garantierte. Die Folgen dieses Betruges führten beinahe zur Ausschließung Bernharts aus dem Collegium der zürcher Synode. Der katolische Kollege des Gachnanger Pfarrers wurde dann wiederum vom reformierten bezahlt, wobei er sich meistens mit dem sauersten Wein vom Ertrag der Pfarrreben und dem vermoderten Holz des Pfarrwaldes begnügen mußte.
Erst der 4. Landfriede von 1712, der in Baden nach dem Villmerger Krieg, aus dem die evangelischen Stände siegreich hervorgingen, geschlossen wurde, ermöglichte eine effektive Gleichstellung beider Konfessionen und es kam zu einer theoretischen Gleichberechtigung oder zur sogenannten Parität.

Das Vorbild der evangelischen Kirche im Thurgau war bis 1803 Zürich. Von hier aus wurde die evangelische Kirche in Organisation und Theologie geprägt und gesteuert. Die Pfarrer der Kirchgemeinde Gachnang wurden bis zu den Auswirkungen der französischen Revolution in der Schweiz ausschließlich aus dem Stand Zürich rekrutiert, wobei die Bestätigung durch den katholischen Bischof in Konstanz nur noch eine Formsache war. In allen politischen und theologischen Belangen entschied letztlich der Kirchenstaat Zürich. Es konnte kaum ein politischer oder theologischer Endscheid gefällt werden, ohne daß Zürich nicht sein ok dazu gab. Dafür war es aber auch meistens der Stand Zürich, der den Gachnangern immer wieder aus der Patsche verhalf. So war es Zürich, das die Schandtaten der evangelischen Glaubensgenossen während dem Gachnanger Handel mit der horrenden Summe von 6000 Gulden beglich, und immer wieder war es Zürich, das sich dann sehr großzügig zeigte, wenn der evangelische Glaube im nachbarlichen Untertanenstand in Gefahr war.

Die große Wende für die beiden Kirchen in unserem Kanton brachte erst die Anfang des 19. Jahrhunderts erziehlte politische Unabhängigkeit. Die Freude darüber, daß die Bevölkerung nun endlich auch zu ihrem Stimmrecht kam, ließ die Gachnanger Kirchbürger schon 1797 einen schön geschnitzten Stimmkasten anferti gen, auf dem in übergroßen Buchstaben das Wort FREIHEIT zu lesen ist. In Erwägung, daß "Religion und Sittlichkeit (heute wären diese Kriterien wahrscheinlich Wohlstand und Finanzkraft) die ersten Grundsteine für das Glück jedes Landes sind", wurde das Staats- und Kirchenwesen innerhalb der folgenden 5 Jahre nun neu organisiert. Die Mediationsverfassung von 1803 sicherte durch den Artikel 24. "die freie und uneingeschränkte Ausübung des katholischen und protestantischen Glaubens". Zum ersten Mal konnte nun das Pfarramt Gachnang von einem thurgauer Pfarrer versehen werden. Er war der Sohn des damaligen Statthalters Ludwig Sulzberger von Frauenfeld.

Die Pfarrpfründen des jungen freien Kantons wurden gänzlich in die Obhut des Staates genommen und von ihm verwaltet, was zur ersten Staatskirche in unserem heutigen Verständnis führte. Der Staat hatte also das alleinige Recht Pfarrer einzusetzen, kirchliche Liegenschaften zu kaufen oder zu veräußern, was ihm aber auch erhebliche Kosten einbrachte. So mußte der Kanton 1836 den Gachnangern ein neues Pfarrhaus finanzieren, und dies bescherte ihm bald finanzielle Schwierigkeiten und einen Prozess mit der Gachnanger Kirchgemeinde. Der Kleine Rat verweigerte nämlich den Bau des traditionellen Waschhauses neben dem sogenannten Pfarrspeicher im Pfarrgarten. Die Gachnanger aber brachten es soweit, daß das Thema "Waschhaus" nach bald 10jähriger hartnäckiger Beharrlichkeit im kleinen Rat auf die Tagesordnung gesetzt und behandelt wurde. Nach Einschaltung des evangelischen Kirchenrates und wahrscheinlich auch nach allmählicher Ermüdung ähnlich dem Richter aus dem Gleichnis der hartnäckigen Witwe (Lk 18,1-8), endschied der kleine Rat endlich, daß "die erforderliche Summe für den Bau eines Waschhauses im Gachnanger Pfarrgarten aufs Budget für das nächstliegende Jahr genommen werde, und dasselbe im laufe des nächsten Jahres auf Kosten des Staates ausführen lasse." Damit hatte Gachnang seinen Willen durchgesetzt: der Große Rat genehmigte die Baufinanzierung, und Gachnang bekam sein Waschhaus, wie es sich von Alters her für ein Pfarrhaus ziemte. Vielleicht waren es unter vielen anderen Gründen auch solche Erfahrungen, die den Staat in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts dazu brachten, die Verwaltung der kirchlichen Liegenschaften schön langsam durch Ablösungssummen von Seiten der Finanzkommission des Kantons Thurgau den jeweiligen Kirchgemeinden zu übertragen und die fast vollständige Trennung zwischen Kirche und Staat einzuleiten, was dann durch die neue Verfassung des Kantons Thurgau definitiv verankert wurde und die neue Thurgauer Landeskirche das Recht erhielt, neben der kantonalen Verfassung, zum ersten Mal eine eigene Verfassung fest zu schreiben. Und genau dieses Jubiläum feiern wir im nächsten Jahr: der 150 Jahre eigenständigen vom Staate nicht mehr bevormundeten Landeskirche des Kantons Thurgau.

Um diesen Prozess zu verstehen, müssen wir nochmals kurz an den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückblicken.
Nach 1803 wurden im Laufe der folgenden Jahrezhnte unter staatlicher Aufsicht offizielle Ämter geschaffen, die beiden Kirchen zu ihren Rechten verhelfen sollten. 1804 trat das evangelische Ehegericht in Kraft, dem neben drei Geistlichen sechs hohe staatliche Amtsträger angehörten. Ein provisorischer paritätischer Kirchenrat wurde eingesetzt, dem die Wahrung der gegenseitigen Tolleranz, die Aufsicht über die kirchlichen Feiern und bürgerlichen Feste und die Entscheidungen bei Anständen in der Verwaltung der Kirchengüter oblagen. In dieser Zeit kam in vielen Gemeinden des Thurgau von seiten der benachteiligten Konfession der Wunsch auf, gleichberechtigte Ansprüche an die Gotteshäuser zu stellen. So kämpften die Gachnanger katholischen Kirchbürger 1810 um gleiches Rechte bezüglich der Gottesdienstfeiern in der Kirche, und baten den paritätischen Kirchenrat, "daß ihnen zu ihrem alten Kirchenrecht wiederum gütigst verholfen werde, sie mit ihrer Mutterkirche wieder vereinigt werden, da sie wahre Waisen unter den Gläubigen von Gachnang seien." Zu ihrem Entsetzen entschied aber der paritätische Kirchenrat: "Die katholischen Bürger in Gachnang sind mit ihrer Forderung an die evangelische Kirche und das Kirchengut gänzlich abgewiesen und haben für alle Zukunft an die Evangelischen keine Ansprüche zu machen, als diejenigen, wozu sie durch den Spruch von Elgg 1613 berechtigt sind."

1807 erhielt jede Kirchgemeinde durch ein von der Regierung erlassenes Gesetz einen sogenannten Kirchenstillstand, der nichts anderes als der Vorgänger der 1819 eingeführten Kirchenvorsteherschaft war. Vor 1798 gab es nur wenige Gemeinden mit kirchlichen Behörden. Zu den ersten gehörte Gachnang, das schon Ende des 17. Jahrhunderts, also mehr als 100 Jahre vor der offiziellen Einführung dieser Behörde, den Stillstand besaß. Der Name dieses Gremiums kommt daher, daß seine Mitglieder nach dem Gottesdienst vor den für sie bestimmten Stühlen stillstehen mußten bis alle Gottesdienstbesucher die Kirche verlassen hatten, um sich anschließend im Pfarrhaus zur Sitzung zu treffen. Sie hatten auch das Recht nach den Abendmahlsgottesdiensten den übriggebliebenen Abendmahlswein auszutrinken. Von diesen Stillstandssitzungen ist in Gachnang heute nur noch das gemeinsame Austrinken des Abendmahlsweines übrig geblieben.

Den Stillständern wurde vom Staat die Aufgabe übertragen, das sittliche und religiöse Gemeindeleben zu beobachten und zu bewachen. Im weiteren stand ihnen auch die Aufsicht über das Schulwesen zu. In der Gachnanger Stillstandsordnung von 1690, die vom damaligen Ortspfarrer verfaßt wurde, ist festgehalten, daß der Stillständer Achtung geben muß auf "alle und jede, welche in Unglauben und in der Unwissenheit leben, welche auch mit Zauberkünsten umgehen, so auch dem Fluchen und Schwören ergeben sind, die den Gottesdienst liederlich und wenig besuchen, oder auch den Tag des Herrn mit unanständiger Arbeit entheiligen. Auch soll er fleißig gewahren derjenigen heillosen Eltern, welche ein liederliches Hauswesen führen, ihre Kinder in schlechter Zucht halten, oder mit unartigem Leben ihre Kinder und sich selbst in Gefahr und Armut stürzen. Desgleichen auf unartige und schlimme Kinder, Knecht, Magd, besonders auf diejenigen, welche in Liechtstubeten oder nächtlicherweil ärgerlich zusammen wandeln, oder sich lang und gefährlich beieinander aufhalten. Auch soll ein jeder Stillständer eine fleißige Wacht halten auf diejenigen Eheleute, welche miteinander in öffentliches Zerwürfnis geraten."
Der jeweilige Ortspfarrer, als Präsident des Stillstandes, mußte jedes Jahr einen Bericht über die Sittlichkeit seiner Gemeinde für den Administrationsrat in Frauenfeld verfassen. So schreibt Pfarrer Sulzberger über die Gemeinde Gachnang: "Überausgelassenheit der Jugend ist keine. Seit der letzten Visitiation sind nur drei Unzuchtsfälle vorgekommen. Ehestreitigkeiten sind nicht so häufig. Dies Jahr gab es drei wegen Ehebruch, zwei wegen Unordnung in den Haushalten und drei wegen Streitigkeiten mit den Eltern. Seither steht es Gottlob freundlich". Auf die Frage, ob der reformierte Pfarrer mit seinem katholischen Kollegen in gutem Vernehmen stehe, antwortet Sulzberger: "Diesmal ist er ganz artig".

1809 wurde für die Thurgauische Geistlichkeit eine Synode ins Leben gerufen, deren erste Tagung im Mai 1813 und die zweite erst 1822 stattfand. Damit gehörten die Geistlichen nicht mehr der Zürcher Synode an. Diese Synode hatte im Vergleich zur heutigen keinen legislativen Charakter, sondern war nur eine Art Beratungsorgan des Kirchenrates, der die Vorschläge prüfte und an die staatlichen Behörden weiterleitete.

In der Verfassung von 1814 wurde festgehalten, daß jedem Konfessionsteil unter der höheren Aufsicht der Regierung die eigene Besorgung seines Kirchen- und Schulwesens, ihm also die Organisation sowie die Aufsicht und Verwaltung über die ihm wirklich und ausschließlich zugehörigen Kirchen-, Schul- und Armengüter übertragen wird, jedoch als in den Staat eingebettete Institution. Die Kirchen leisteten also für den Staat im Bereich der Bildung des Volkes und im Bereich der sozialen Betreuung enorme Dienste, zu denen das damalige staatliche Gefüge noch gar nicht fähig war.

Diese Selbständigkeit der evangelischen Kirche hinsichtlich des Schulwesens hatte in Gachnang seine Auswirkungen bis in die 70ger Jahre dieses Jahrhunderts. So war der Schulpräsident bis 1972 durchwegs der reformierte Ortspfarrer, was neben den vielen positiven Folgen manchmal auch zu unangenehmen Auseinadersetzungen zwischen Reformierten und Katholiken führte. Pfarrer Huber sanktionierte z. B. An fang dieses Jahrhunderts den katholischen Lehrer, weil dieser beim Jassen mit einem Schüler einer katholischen Familie im Restaurant Raben das Spiel verlor und ihm deswegen einen Holzscheit über den Kopf schlug. Diese Sanktio nierung ärgerte den Lehrer, so daß er das Gerücht aufkommen ließ, daß der Neujahrsspeck der betreffenden katholischen Familie anstatt im katholischen, im reformierten Pfarrhaus abgegeben worden sei. Die Folge dieser peinlichen Angelegenheit war, daß der Lehrer sich entweder beim Pfarrer Huber entschuldigen oder die Gemeinde verlassen mußte. Der Lehrer entschied sich für letzteres.

Andererseits konnte die Verquickung zwischen Kirche und Schulwesen auch zu nachteiligen Auswirkungen auf das kirchliche Leben führen. So entschied Pfarrer Aeppli 1874, daß die Kapelle Gerlikon zugunsten der Finanzierung eines Schulhauses veräußert werden solle und der Kirchenfonds der Gachnanger Filial-kirche Gerlikon in einen Schulfonds umgewandelt werde. Die Begründung dafür war, daß der Gottesdienst am letzten Sonntag jeden Monats liederlich besucht werde und daß die Gerlikoner Kirchbürger, zu denen auch die Rosenhubner und Oberwiler gehörten, den Gottesienst in der Pfarrkirche Gachnang besuchen könnten, auf deren Friedhof ihre Familienmitglieder bestattet werden. Damit wurde die Kapelle in einen Feuerwehrschopf umgewandelt und erst 1947 durch den unermüdlichen Einsatz der Denkmalpflege und meines Vorgängers Pfarrer Fankhauser wieder ihrem ursprünglichen Zweck zugeführt.

1817 wurde der evangelische Administrationsrat geschaffen, dessen Präsident der jeweilige Land-ammann des evangelischen Konfessions teils des Großen Rates war. Ihm stand als Geschäftsführer der oberste Geistliche der evangelischen Kirche, der Antistes, zur Seite. Er besaß eine fast unbeschränkte geistliche Machtfülle, so daß er eine Art "stellvertretender Bischof in der evangelischen Kirche" und "mächtiger und einflußreicher Staatssekretär für Kultus und Erziehung im ganzen Kanton war". Dies Amt hatte damals Johann Melchior Sulzberger, Pfarrer von Kurzdorf inne. Er war der erste und zugleich auch der letzte Bischof der evangelischen Kirche des Kantons Thurgau, da die Verfassungsrevision von 1831 den Administrationsrat mit dem Amt des Antistes abschaffte und durch den evangelische Kirchenrat ersetzte, der mit sämtlichen Pfarrern und sechs evangelischen Mitgliedern des Großen Rates der evangelischen Synode angehörte. Unter dem Vorbehalt der Genehmigung durch die staatlichen Behörden hatte sie die Möglichkeit über rein kirchli che Angelegenheiten Beschlüsse zu fassen. Den Kirchgemeinden wurde das Recht verliehen, ihre Pfarrer, die bisher vom Kleinen Rat ernannt wurden, selber zu wählen. Und trotzdem war die Verflechtung zwischen Staat und Kirche noch so eng, daß die Regierung sogar die privatesten religiösen Entscheidungen der einzelnen Familien bestimmte. So heißt es in einem Visitationsbericht von Pfarrer Sulzberger betreff der Taufe in Gachnang: "Mit der Taufe wird nach altem und rechtem Brauch nicht zu lang zugewartet. Nur zwei Frauen und eine Haushaltung, deren Haupt aber in Frauenfeld wohnt, sind Wiedertäufer. Bei der Geburt eines Kindes ist letztere von der Regierung zur Taufe desselben gezwungen worden."

Diese enge Verquickung von Staat und Kirche wurde von liberalen Kreisen innerhalb der Thurgauer Pfarrerschaft bald als eine unwürdige Bevormundung der Kirche empfunden, so daß die Staatsverfassung von 1849 den ersten Schritt einer von der staatlichen Gewalt unabhängigeren Kirche wagte. Sie bestimmte, daß die Synode unter Vorbehalt der Genehmigung des Staates, alle inneren Angelegenheiten der evangelische-refor mierten Kirche ordnen kann. Der Große Rat behielt also nur noch die Funktion eines "Landesbischofs", von dessen Entscheidung aber die inneren Angelegenheiten der evangelischen Kirche abhängig waren. So konnte er einige Jahre später den von der Synode beschlossenen dreijährigen Religionsunterricht und die von den Pfarrern begehrte Abschaffung der Leichenpredigt bedenkenlos ablehnen.
Erst mit der Verfassung des eidgenössischen Standes Thurgau von 1869, also vor 150 Jahren, wurde der evangelischen und der katholischen Kirche im Thurgau eine weitstehende Selbständigkeit zuerkannt. In staatsrechtlichen Dingen unterstehen sie der Oberaufsicht des Staates, welcher die Wahrung der demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze verlangt, während in der Gestaltung des innerkirchlichen Lebens volle Unabhängigkeit vom Staat besteht. Somit wurde der Grundstein für die heutige Gestalt unserer Landeskirche geschaffen, an dem sich im Grunde genommen fast gar nichts verändert hat.

Was die Kirchen im Thurgau noch mit dem Staat verbindet ist erstens die ihr zuerkannte Steuerhoheit, das heißt, daß sie das Recht haben für ihren Unterhalt von den Gemeindemitgliedern Steuern einzuziehen, was übrigens erst in der zweiten Hälfte des 20. Jh. die politischen Gemeinden für die Kirchen als Dienstleistung übernommen haben, zweitens, daß die Seelsorge an kantonalen Anstalten durch den Staat mitfinanziert wird, drittens, daß den Kirchen das Recht eingeräumt ist, an den Schulen innerhalb der vorgeschriebenen Unterrichtszeit Religionsunterricht zu erteilen und viertens, daß der Große Rat für die evangelische Kirche die oberste Instanz der Überwachung ist, also die Funktion eines "Landesbischofs" innehat und für die Einhaltung der demokratischen Grundrechte zu sorgen hat.

Für die Regelung der innerkirchlichen Angelegenheiten wurde 1870 die evangelische Volkssynode mit legislativem Charakter ins Leben gerufen. Bis dahin gehörten der evangelischen Synode neben der Geistlichkeit lediglich eine begrenzte Anzahl von Vertretern der staatlichen Obrigkeit an. Ab jetzt bestand die Synode mehrheitlich aus Laien, womit die Verantwortung für das kirchliche Leben auf eine breite Basis der Glaubensmitglieder der evangelischen Kirche gestellt wurde. Sie ist für die Aufstellung der Gesetze und Verordnungen, und für die Wahl des Kirchenrates, der die Funktion der Exekutive innehat, zuständig. Seither trifft sich die Geist lichkeit in den sogenannten Pfarrkapiteln, die nichts anderes sind als die Fortführung der Synode vor 1869. Der erste Dekan des Frauenfelder Pfarrkapitels war Dr. Johann Alfred Aeppli, Pfarrer von Gachnang.

Als Folge dieser bald 200jährigen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche lautet die Verfassung vom 16. Mai 1987 des Kantons Thurgau betreff Staat und Kirche folgendermaßen:

§ 91: Die evangelisch-reformierte und die römischkatholische Religionsgemeinschaft sind anerkannte Landeskirchen des öffentlichen Rechtes.
§ 92: 1: Die Landeskirchen ordnen ihre inneren Angelegenheiten selbständig.
2: Sie regeln Angelegenheiten, die sowohl den staatlichen als auch den kirchlichen Bereich betreffen, in einem Erlaß, der die demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätze zu wahren hat. Dieser unterliegt der Volksabstimmung in der Landeskirche und bedarf der Genehmigung durch den Großen Rat.
3: Oberste Behörde jeder Landeskirche ist ein Parlament. Dieses erläßt das Organisationsgesetz und wählt die vollziehenden Organe.
§ 93: 1: Die Landeskirchen gliedern sich in Kirchgemeinden mit eigener Rechtspersönlichkeit.
2: Die Kirchgemeinden können für die Erfüllung der Kultusaufgaben innerhalb von Kirchgemeinden, Landeskirchen und Religionsgemeinschaft im Rahmen der konfessionellen Gesetzgebung Steuern in Form von Zuschlägen zu den Hauptsteuern erheben.

Mit dieser Verfassung, meine ich, hat der Kanton Thurgau eine positive und fruchtbare Lösung für die Zusammenarbeit von Staat und Kirche gefunden, die auch den Grundsätzen des Evangeliums unseres Herrn Jesus Christus in keiner Weise widersprechen. Dies bezeugt er im Gesetz über das Unterrichtswesen im §2, Absatz 2, wo den jungen Thurgauern und Thurgauerinnen neben Wissen und Fertigkeit auch die Erziehung zur selbstständigen, lebenstüchtigen Persönlichkeit und zu Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem Mitmenschen im Sinne der christlichen Ethik vermittelt werden muß. Und genau dafür, so meine ich, braucht der Staat die Kirchen

Quellen: Staatsarchiv Frauenfeld, Gachnanger Pfarrarchiv, Archiv des Evangelischen Kirchenrates Frauenfeld
Pfr. Christian Herrmann
Historischer Überlick Historischer Überlick zum Thema:
Kirche und Staat im Kanton Thurgau

313: Ende der Verfolgung der Christen
380: Unter Theodosius dem Großen wird die Religionsfreiheit abgeschafft und die katholische (allumfassende) Kirche wird zur alleinberechtigten Staatskirche erklärt.
800: fränkische Landeskirche unter dem Schutz des Frankenkönigs
16. Jh:Reformation und Gegenreformation- "cuius regio eius religio" (Wie die Regierung, so auch die Religion"
1803: Mediationsverfassung - freie und uneingeschränkte Ausübung des reformierten und katholischen Glaubens.
1804: paritätische Kirchenrat - Regelung kirchlicher Fragen beider Konfessionen.
1817: Kirchenstillstand aus dem 1819 die Kirchenvor-steherschaften hervorgingen.
1809: Einberufung der thurgauischen Synode bestehend aus allen Geistlichen - ohne legislativen Charakter.
1814: die kantonale Verfassung hält fest, daß die Besorgung des Kirchen- Schul- und Armenwesens jedem Konfessionsteil unter Aufsicht der Regierung überlassen werden soll.
1817: Schaffung des evangelischen Administrationsrates.
Präsident: Landamman des evgl. Konfessionsteils des GR
Geschäftsführer: Antistes (Bischof)
1831: Verfassungsrevision: Evangelische Kirchenrat löst den Administrationsrat ab.
Dazu gehören 6 evgl. Mitglieder des GR
1849: Neue Staatsverfassung überläßt der Synode unter Vorbehalt der Genehmigung des Staates alle inneren Angelegenheiten der Kirche.
1869: Neue Verfassung des eidgen. Standes Thurgau:
in der Gestaltung des innerkirchlichen Lebens wird der Kirche volle Unabhängigkeit vom Staat gewährleistet.
Einberufung der evangelischen Volkssynode.

Dies ist der Grundstein für die heutige Gestalt unserer Landeskirche.


Pfr. Ch. Herrmann
 
Autor: Richard Ladner - Bereitgestellt: 09.10.2023
aktualisiert mit kirchenweb.ch