Eine überaus grosse Trauergemeinde nahm am gestrigen Sonntag in Sevelen Abschied vom ehemaligen Gemeindepfarrer Alt-Dekan Brütsch, der am vergangenen Donnerstag, den 23. September 1954, in seinem Heim an der Neugutstrasse in Buchs, wo er die 13 Jahre seines Ruhestandes verlebte, in die Ewigkeit hinüberschlummerte. Er starb im biblischen Alter von nahezu 89 Jahren, nach einem reichen Leben der Arbeit und des Dienstes; nach einem Leben, auf dem selten deutlich der Segen des Höchsten ruhte und das vielen zum Segen werden durfte.
Im Schatten der heimeligen Seveler Dorfkirche und des stattlichen Pfarrhauses, in denen Pfarrer Brütsch während 48 Jahren in so beispielhafter Treue wirkte, fand der Verstorbene neben seiner ihm letztes Jahr im Tode vorangegangenen Gattin seine letzte Ruhestätte. Dort, am
offenen Grabe sprach vorerst namens des Freundeskreises und der Studentenverbindung «Schwyzerhüsli» Basel, der Pfarrer Brütsch als Student angehört hatte, Dekan Pfr. Sonderegger (Glarus) bewegte Worte des ehrenden Gedenkens. Vor allem erinnerte er an die einzigartige Freundschaft, die den Verstorbenen mit seinem (des Sprechenden) Vater, Pfarrer W. Sonderegger in Buchs, und Pfarrer Jenny in Grabs verband und zeigte, in welch hohem Masse ihm in seiner Wirksamkeit die Devise der Verbindung «Schwyzerhüsli»: «Gott, Freundschaft, Vaterland» richtungweisend blieb. Und dann sangen die aus dem ganzen Kapitel Rheintal- Werdenberg-Sargans herbeigeeilten Pfarrer ihrem toten Amtsbruder und väterlichen Freund als Abschiedsgruss jenen glaubensstarken Choral: «Wachet auf! ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne, wach' auf, du Stadt Jerusalem!»
Den Abdankungs-Gottesdienst in der Kirche hielt Dekan Pfr. Dr. Paul Vogt (Grabs). Anhand eines Lebenslaufes, den wir anschliessend im Wortlaut wiedergeben, schilderte er eingehend die irdische Pilgerschaft des Verstorbenen und seine Wirksamkeit, um dann nach dem Textworte: «Einen andern Grund kann niemand legen, ausser dem, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus» (1. Korinther 3,11) aufzuzeigen, welches die Kraftquellen waren, aus denen Daniel Brütsch Zeit seines Lebens schöpfte, die seine Hoffnung waren und auch seiner Gemeinde nahezubringen und zu öffnen, ihm immer und überall tief innerstes Anliegen war.
Mit Gebet und Segen schloss Gemeindepfarrer Rissi die eindrückliche Trauerfeier, die der Kirchenchor Sevelen und ein Quartett der Evangelischen Lehranstalt Schiers gesanglich und musikalisch bereichert hatten.
So wurde der Abschied von Alt-Dekan Brütsch vor allem zum Ausdruck des tiefen Dankes gegen Gott, der der Gemeinde Sevelen und dem ganzen Kapitel diesen Mann geschenkt hat. Wie aber sollen wir danken? Der Verstorbene selber hat diese Frage im letzten Weihnachtsartikel, den er 1951 für unser Blatt schrieb, beantwortet: «Ich denke so, dass wir uns von Jesu Christi leiten lassen. Dass doch recht viele so dankten! Dann sähe es anders aus in dieser Welt. Wo Christi Geist nicht ist, da entsteht Unordnung im einzelnen Menschen, in der Familie und im Gemeinwesen. Dieser Christusgeist wird einem jeden geschenkt, der guten Willens ist. Wer diesen Christusgeist sich schenken lässt, der erlebt Weihnachtsfreude.»
Daniel Brütsch wurde am 30. Oktober 1865 geboren. Er war Bürger von Büttenhardt (Kanton Schaffhausen). Seine Eltern standen der Kaspar Appenzellerschen Mädchenanstalt Wangen im Kanton Zürich als Hauseltern vor. Vier eigene Kinder sind ihnen anvertraut worden. In Wangen durchlief Daniel die sechskursige Primarschule. Der Vater hätte es gerne gesehen, wenn er Lehrer geworden wäre. Der Sohn wurde aber durch die politischen Bestrebungen der damaligen Lehrerschaft des Kantons Zürich abgeschreckt, Lehrer zu werden.
Sein Vater willigte dann in den Wunsch des Sohnes ein, Pfarrer zu studieren. Zum Eintritt ins Gymnasium in Zürich bereitete der Ortspfarrer, Dekan Bölsterli, den Jüngling durch Unterricht in lateinischer und griechischer Sprache vor. Nach dem Rücktritt der Eltern von der Anstaltsleitung siedelte der Gymnasiast mit ihnen nach St. Gallen über. Dort bestand er die Aufnahmeprüfung in die fünfte Klasse der Kantonsschule und später die Maturität.
Hierauf folgten fünf Semester Theologiestudium an der theologischen Fakultät der Universität Basel, dann zwei Semester in Greifswald, wo der Student zusammen mit anderen Schweizern mit Freuden die dortigen Professoren Schlatter und Cremer hörte, die beide für seine spätere theologische Entwicklung und Stellung bestimmend wurden. Nach einem letzten Basler Semester und in Zürich abgelegter Concordatsprüfung zeigte es sich, dass beim damaligen grossen Überfluss an Theologen wenig Hoffnung bestand, ein Pfarramt zu erhalten. Deshalb nahm Daniel Brütsch die Berufung zum Assistenten des blinden, hochgeschätzten Theologieprofessors Eduard Riggenbach in Basel an. Dieses Assistentenjahr war von besonderem Wert. Nach der Heimkehr diente der junge Theologe als Aushilfe in verschiedenen Gemeinden der Kantone St. Gallen, Appenzell, Thurgau, Zürich und Graubünden, bis er am 15. Oktober 1893 als Pfarrer der Kirchgemeinde Sevelen gewählt und am 12. November daraufhin von. Vize-Dekan Ringger aus Altstätten installiert wurde. Da sein Vater in St. Gallen gestorben war, begleiteten die gute Mutter und zwei Schwestern den jungen Pfarrer nach Sevelen. Im Jahre 1900 starb auch die liebe Mutter, die ihrem Sohn eine grosse Hilfe im Dienst an seinen Pfarrkindern gewesen war.
Er liebte sein Predigtamt. Ebenso liebte er die Kranken der Gemeinde, die er treulich besuchte. Vor allem aber war ihm der Jugendunterricht ans Herz gewachsen. Im Laufe der Zeit wurde der Gemeindepfarrer in verschiedene Ämter gewählt. So wurde er Mitglied des Ortsschulrates, dann des Sekundarschulrates der Werdenbergischen Sekundarschule in Buchs, später Mitglied und Präsident des Bezirksschulrates Werdenberg. Der Dienst an der Schule war ihm Herzensanliegen. Ebenso sehr war ihm und seinem benachbarten Freunde Sonderegger in Buchs Bildung und Erziehung evangelischer Seminaristen und evangelischer Mittelschüler des Gymnasiums am Herzen gelegen. Deshalb liess er sich ihn Februar 1907 in den Vorstand der Evangelischen Lehranstalt Schiers wählen und amtete vom 7. März 1913 an als Aktuar. Im Jahre 1932 übernahm dieser Freund der Jugend sodann das Präsidium des Vereins der Evangelischen Lehranstalt Schiers, das er bis zum 28. September 1943 innehielt. Dann legte er die Last der Verantwortung wieder auf jüngere Schultern und diente weiterhin zum zweiten Mal als Aktuar. Viele handgeschriebene Protokolle zeugen vom Fleiss, vom Verantwortungsbewusstsein und der Gewissenhaftigkeit ihres Verfassers. Die Abschiedsworte, die Herr Direktor Witzig im 115. Jahresbericht über das Jahr 1951/52 dem damals zurückgetretenen Vorstandsmitglied widmete, dürfen auch hier in dankbarem Gedenken festgehalten werden:
«Wer die Geschichte unserer Schule kennt, der weiss, wie sehr sein Name seit Jahrzehnten mit ihren Geschicken verflochten ist. Zusammen mit seinem Freund, Herr Pfarrer W. Sonderegger, hat er die Beratungen des Vorstandes während Jahrzehnten mit grosser Umsicht und in wahrhaft evangelischem Geiste geleitet. Seine gediegene humanistische Bildung, sein scharfer Verstand, seine unbestechliche Menschenkenntnis und nicht zuletzt sein goldener Humor befähigten ihn, auch in schwierigen Situationen die Entscheidungen des Vorstandes mit Festigkeit nach einer klar erkannten Zielsetzung zu lenken. Die vielen und verantwortungsschweren Arbeiten des Präsidiums nahm er mit einem Fleiss und einer Gewissenhaftigkeit auf sich, die seine ganze Hingabe für die Anliegen unserer Schule bezeugten. Für Vorstand und Verein verkörperte er durch seine reiche und lebendige Kenntnis der Schulgeschichte die gute Tradition der Schule.»
Aber nicht nur der Evangelischen Lehranstalt Schiers hat Daniel Brütsch seine besten Kräfte geschenkt, sondern auch vielen Dienstzweigen unserer lieben evangelischen Landeskirche des Kantons St. Gallen, Er diente als Mitglied in der Kommission zur Schaffung der Kinderbibel für die evangelischen Schulen des Kantons. Die kantonale Kirchensynode, deren Glied er war, wählte ihn zunächst als Aktuar und später während einer Amtsdauer als Präsidenten. Die Pfarrerschaft des Pfarrkapitels Rheintal-Werdenberg-Sargans wählte ihn vertrauensvoll zum Präsidenten des Kapitels und schlug ihn der Synode des Jahres 1908 zur Wahl als Vize- Dekan und der Synode des Jahres 1917 zur Wahl als Dekan vor. Bis zu seinem Rücktritt vom Pfarramt Sevelen im Jahre 1941 amtete der Entschlafene als Dekan des grossen Pfarrkapitels. 39 Pfarrer hat er in seinem Dekanatskreis im Laufe der 24 Dekanatsjahre in ihr Pfarramt eingesetzt. Vielen von ihnen ist er väterlicher Freund und Berater geworden, die ihn in dankbarer Erinnerung behalten. Seine Freude aber war es, wenn er sehen und erleben durfte, wie junge Amtsbrüder gewissenhaft und hingebend in ihren Gemeinden dienten, das Evangelium kraftvoll und freudig verkündigten und das Pfarramt nicht als einen guten Versorgungsposten betrachteten.
In seiner eigenen Kirchgemeinde Sevelen stellte er sich immer wieder lernbegierig und demütig unter das Wort Gottes. Bald nach seiner Wahl zum Gemeindepfarrer schlug er der Kirchenvorsteherschaft vor, wöchentlich eine Bibelstunde im Schulhaus halten zu lassen. Die Behörde aber liess sich von den Bedenken des damaligen Zeitgeistes bestimmen und gestattete erst zwei Jahre später einen Versuch für die Winterszeit. Sie waren gut besucht. Deshalb blieb es nicht nur beim Versuch. Der Bibelstundendienst wurde weiterhin nach Kräften gefördert. Der Pfarrer ruhte auch nicht, bis ein Kirchenchor ins Leben gerufen wurde.
Mit der Werdenbergischen Erziehungsanstalt Stauden in Grabs, dem jetzigen Lukashaus, war Dekan Brütsch während 50 Jahren als Vorstandsmitglied treu verbunden und nahm an ihrem Wohl und Weh lebhaften Anteil. Der Vorstand ernannte ihn denn auch mit Freuden zum Ehrenmitglied. Das Vertrauen der Behörden wählte den tüchtigen Pfarrer in die Jugendschutzkommission Buchs-Wartau, die er jahrzehntelang präsidierte. Für ungezählte gefährdete Jugendliche durfte er Helfer und Berater werden.
Viel Kraft und Freude für die vielseitige Arbeit schöpfte Dekan Pfarrer Daniel Brütsch in seiner ihm von Gott geschenkten Ehegemeinschaft. Im Jahre 1904 verehelichte er sich mit Maria Elvira Tischhauser, der Tochter von Niklaus Tischhauser aus Sevelen und der Maria Domenika Matossi. Seine Gattin war in Pamplona, Spanien, geboren worden. Ihr Vater starb, als sie kaum ein Jahr alt war. Ihre Mutter verehelichte sich wieder mit Kaufmann Giorgio Conzetti von Poschiavo, einem Glied der dortigen evangelischen Gemeinde. Frau Dekan Brütsch war ihrem Gatten eine liebe und tüchtige Gehilfin. Als sie am 18. Januar 1954 ihre Augen nach 50jähriger Ehegemeinschaft geschlossen hatte, betonte der vereinsamte Gatte immer wieder, welche Gnade Gottes ihm zuteil geworden war durch seine Frau, die ihn verstand, die mit ihm trug und Freude und Leid mit ihm teilte und die durch ihre Herzensgüte, ihre Bildung und ihren Humor viel Sonnenschein in sein Leben ausstrahlen durfte. Nach 48jährigem Pfarrdienst trat der greise Diener am Worte Gottes am 30. September 1941 vom Pfarramt der Gemeinde Sevelen zurück, welcher er seine ganze Lebenskraft und Arbeit gewidmet hatte. Um einem jungen Amtsbruder freie Hand zu lassen, zog er sich in das benachbarte Buchs in einen sehr tätigen Ruhestand zurück. Solange die Kräfte irgendwie reichten, nahm das greise Ehepaar aktiv teil am kirchlichen Leben in der Wohngemeinde Buchs, fehlte sozusagen in keinem Gottesdienst und an keiner Abendmahlsfeier. Da, in der Gemeinde, war ihr Platz, zur Gemeinde gehörten sie. Dort feierten sie den Tag des Herrn und die Feste des Herrn.
Ein schönes Verhältnis verband die alten Pfarrersleute mit den Amtsbrüdern in Buchs. Solange die Kräfte reichten, diente der Diener am Wort mit den Festtagsartikeln für den «Werdenberger und Obertoggenburger». Während 50 Jahren hatte er diesen Dienst mit seltener Treue und Gewissenhaftigkeit getan, so dass der Redaktor des Blattes bezeugt, die Artikel seien jeweils mit der Pünktlichkeit einer Uhr vier Tage vor dem Fest eingetroffen. Es war dem Schreiber ein Glaubensanliegen, wie im gesprochenen so auch im geschriebenen Worte Brot zu bieten, nahrhaftes Brot und kein süsses Naschzeug, das nicht nährt zum ewigen Leben. All sein Wirken war in seinem Glauben gegründet.
Gottes Treue und Güte hatte dafür gesorgt, dass ihm in den Tagen der grossen Einsamkeit und der zunehmenden Altersschwäche nach dem Heimgang seiner Gattin durch seine Schwägerin, Fräulein Conzetti, Hilfe und Pflege und treue Fürsorge zuteilwurde.
Nach bangen Tagen der Schwachheitsnot schloss der müde Pilgrim und Wandersmann seine Augen für diese Zeit und Welt am Donnerstag, den 23. September, gegen die Mittagsstunde. Durch Gottes Gnade darf er nun schauen, was er geglaubt und im Glauben bekannt und bezeugt hat. Soli deo gloria. Gott allein die Ehre.
wa [Hans Walther, Redaktionsleiter], «Werdenberger & Obertoggenburger»
Hans Walther, Redaktionsleiter, «Werdenberger & Obertoggenburger»