Hans-Alfred Girard kam am 8. Dez.1920 in Stadel bei Dielsdorf ZH zur Welt. Die ersten Jahre wuchs er in Muralto TI auf, wo sein Vater als Pfarrer in der reformierten Diaspora-Gemeinde amtete.
1926 zog die fünfköpfige Familie Girard nach Basel. Hier besuchte Hans-Alfred die Primarschule und das Gymnasium. Auch den grössten Teil seines Theologiestudiums absolvierte er hier; in besonders guter Erinnerung blieben ihm die zwei Semester in Zürich. Ein paar hundert Tage Aktivdienst als Sanitäter warfen ihn zwar im Studium zurück, brachten ihn dafür in der Menschenkenntnis weiter. 1946 wurde er in der Kirche St. Johann in Basel ordiniert.
Sein Berufseinstieg als Pfarrer gestaltete sich schwierig: Nach dem Krieg herrschte grosser Theologen-Überfluss. So sammelte er Erfahrungen als Verweser und Vikar im Aargau, Thurgau, Schwarzbubenland, im Landkreis Lörrach und im Schaffhausischen. Dazwischen arbeitete er auch 15 Monate als Buchungsgehilfe auf dem Basler Postcheckamt.
1954 trat er in Grub AR seine erste Pfarrstelle an. Zu seinem Aufgabenbereich gehörte neben der Seelsorge auch die Tätigkeit als nebenamtlicher Bankverwalter. In dieser Funktion hatte er die örtliche Sparkasse wieder auf Kurs zu bringen, die durch Betrügereien in Schieflage geraten war.
Schon bald zog es ihn wieder in den Kanton Schaffhausen. Von 1956 bis 1963 war er Pfarrer in Beggingen, einem Bauerndorf im Norden des Kantons. Darauf folgten fünf anstrengende Jahre in der Dreifachgemeinde Kesswil-Uttwil-Dozwil TG am Bodensee.
1968 kehrte er zurück ins Klettgaustädtchen Neunkirch, wo er schon in den Fünfzigerjahren ein Vikariat absolviert hatte. Hier wirkte er nun bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1985.
Seine Tätigkeit als Pfarrer beschrieb er folgendermassen: «Als Berufskirchgänger mit einer kritischen und erforschungs freudigen Liebe zum Gottesdienst bin ich weder eine Kanzelposaune noch ein grosser Seelsorger und Katechet geworden, hoffe aber gleichwohl, da und dort nützlich gewesen zu sein. Meine schönsten Erlebnisse im Amt bestanden darin, Benachteiligten zu einem kleinen Erfolgserlebnis verhelfen zu können. Dass ich in der Grub und in Kesswil nicht lange blieb, hängt auch damit zusammen, dass ich dort zu sehr für zu kurz Gekommene Partei ergriff und die Dorfgewaltigen damit vor den Kopf stiess.»
Neben den üblichen pfarramtlichen Funktionen beschäftigte sich Hans-Alfred Girard intensiv mit Gesangbuch forschung und anderen kirchenmusikalischen Arbeiten. Im Schaffhauser Organistenverband erteilte er Kurse für Hymnologie und Liturgik.
Als grösste Bereicherung in seinem Leben bezeichnete er zwei feinsinnige Frauen: seine musikalische, intelligente Mutter – und seine liebe Ehefrau Marie-Louise Girard-Ziegler, mit der er seit 1955 verheiratet war. Ihre unkomplizierte, kontaktfreudige Art bildete den spontanen Gegenpol zu seinem zurückhaltenden, ruhigen Charakter. Sie unterstützte ihn engagiert in der Gemeindearbeit, vor allem auch im Kinderlehre, Präparanden- und Konfirmandenunterricht, wo sie ihre pädagogischen Kompetenzen als Lehrerin einbrachte. Gemeinsam zogen sie vier Töchter und einen Sohn gross und freuten sich über die bunte Schar der Enkel und Urenkel.
Nach der Pensionierung bezog das Paar das Haus am Kannenfeldplatz, in dem er aufgewachsen war, und genoss das urbane Kulturleben seiner Heimatstadt. Daneben beschäftigte er sich mit einer originellen Arbeit über die Heiligen im Appenzeller-Kalender und einem sorgfältig recherchierten Werk über die Geschichte des Kirchengesangs im Kanton Schaffhausen. Er schrieb Tonsätze zu Kirchenliedern, und mit besonderer Freude auch Kompositionen für das Bambusflöten-Ensemble seiner Tochter Anna und für den Verband Bambusflöten Schweiz. Im Pro-Senectute-Orchester reaktivierte er sein Cello, und in der Stube am Kannenfeldplatz gruppierte sich regelmässig ein musikalisches Quartett um die Hausorgel, ein Instrument, das er sich auf die Pensionierung hatte bauen lassen.
In den letzten Jahren und Monaten seines Lebens machte ihm das schwindende Gehör zu schaffen, und die täglichen Spaziergänge im Park wurden immer kürzer. Sein «Meieli» wurde ihm in dieser Zeit auch physisch zur wichtigen Stütze: für sie eine anspruchsvolle Zusatzbelastung, die sie liebevoll auf sich nahm.
Wie jedes Jahr freute er sich auf die Weihnachtsfeier im Kreis der Familie, bei der wieder über 30 Personen dabei sein sollten, Kinder und Enkel mit ihren Familien, darunter auch fünf Urenkel.
In der Nacht auf Heiligabend, gut zwei Wochen nach seinem 99. Geburtstag, hörte sein Herz auf zu schlagen. Trotzdem trafen sich zwei Tage später alle zum Singen unter dem Weihnachtsbäumchen. Sein Sessel blieb leer – aber sein Geist und seine Präsenz waren spürbar.
Paul Girard, Winterthur