Am 29.Oktober 1935 wurde ich in der Pflegerinnenschule Zürich geboren als einziges Kind meiner Eltern Maria und Edgar Merz-Lehmann. Nur fünf Wochen nach meiner Geburt starb meine Mutter, wahrscheinlich infolge einer Hirnembolie. Eine Schwester meines Vaters, meine Tante Alice, gab ihren Beruf auf und trat an die Stelle meiner Mutter. So erlebte ich eine ausserordentlich sonnige Kindheit, die vom damals tobenden zweiten Weltkrieg kaum überschattet wurde. Immerhin: Die Stimme Adolf Hitlers ist mir noch sehr gegenwärtig. Und wenn ich auch den Inhalt seiner Reden nicht verstand, empfand ich sein Gebrüll doch als sehr unheimlich.
Als endlich Frieden verkündet wurde, starb mein Onkel und Götti Heinrich Merz, das dritte von fünf Geschwistern. Als bald Zehnjährigem wurde mir schlagartig klar, was das für mich bedeuten könnte, umso mehr, als mein Vater wenig später einen gesundheitlichen Zusammenbruch erlitt. Als mein Vater in Degersheim einen längeren Kuraufenthalt machen musste, lernte er die junge Hausbeamtin Elsa Roth kennen, mit der er sich ein Jahr später verheiratete. Leider konnten meine Stiefmutter und ich nie richtig zueinander finden.
Nach der Sekundarschule in Wängi besuchte ich die Kantonsschule in Frauenfeld. Im Sommer 1954 erlitt mein Vater einen Schlaganfall. Sein Tod am 18. Juli 1954 war für ihn Erlösung, brachte aber auch für mich die Lösung der familiären Probleme: Meine Stiefmutter kehrte nach Degersheim zurück.
Die nächsten Jahre verbrachte ich in Frauenfeld zusammen mit meiner Tante und der langjährigen Hausangestellten Hedi Preisig. Ich bestand 1955 die Matura. Unter dem Eindruck des Leidens und Sterbens meines Vaters hatte ich mich entschlossen Theologie zu studieren. Ich immatrikulierte mich an der Universität Zürich. 1956 absolvierte ich als Sanitätssoldat in Basel die Rekrutenschule. Vier Theologiestudenten, die wir waren, brachten in den Pausen auf dem Kasernenplatz ganze Kompanien zum Singen von Spirituals, was unter dem Kader einiges Erstaunen verursachte und wohl einmalig war in der Geschichte der Kaserne Basel.
Die vier Semester in Zürich schloss ich mit dem Propädeutikum ab. Prägend für mich waren die Professoren Fritz Blanke, Kirchengeschichte und Eduard Schweizer, Neues Testament. Schweizer mit seiner lebhaften Art war es auch, der in der Krise, die die historisch-kritische Theologie bei einigen von uns, auch bei mir, hervorrief, verständnisvoll und seelsorgerlich Beistand leistete.
Die drei anschliessenden Semester durfte ich in Heidelberg erleben an einer Universität mit vorzüglichen Lehrkräften. Obwohl ich ein schlechter Hebräer war, bestimmte mein langes Verbleiben in der Stadt am Neckar vor allem Professor Gerhard von Rad, der nicht nur ein vorzüglicher Alttestamentler war. Sein breites humanistisches Wissen vermittelte uns Studenten wertvolle Impulse. Dazu hatte ich in einer Villa gleich dem Schloss gegenüber nicht nur mein Zimmer, sondern auch Anschluss bei der Familie Henn – Bendemann gefunden.
Nun galt es aber an den Abschluss zu denken. An der Uni Zürich bestand ich die theoretische Konkordatsprüfung. Das damals noch halbjährige Vikariat absolvierte ich bei Pfarrer Ernst Baer in Sulgen. Dieser war vor allem ein intensiver Seelsorger. Nach bestandenem praktischem Examen wurde ich zusammen mit meinem Freund Willi Helg in der Stadtkirche Frauenfeld durch Kirchenrat Jean Hotz ordiniert.
Im Juli 1961 trat ich in Hüttwilen TG meine erste Stelle an. Ich hatte neben der Kirchgemeinde Hüttwilen, zu der die Gemeinde Herdern gehörte, die Kirchgemeinde Uesslingen zu betreuen, samt den Gemeinden Buch, Warth und die Kartause Ittingen. Auch an der Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain, wie sie damals hiess, war ich zusammen mit einem meiner vier katholischen Kollegen, dem Hüttwiler Pfarrer Paul Netzer vom Kanton Thurgau angestellt und teilbesoldet. Schliesslich war Hüttwilen auch Sitz der Sekundarschule. Hier hatte ich Religionsunterricht zu halten, neben dem kirchlichen Unterricht im engeren Sinn.
Vorerst galt es neben der Einarbeit ins Pfarramt das Neubauprojekt für Kirche und Pfarrhaus zu bearbeiten und Geld aufzutreiben. Ein grosser Basar wurde durchgeführt, der die damals hohe Summe von 10'000 Franken ergab. 1961 wurde auch „Brot für Brüder“ gestartet, damals noch als einmalige Aktion propagiert. Der Erfolg war so gross, dass sich die Aktion, später „Brot für alle“ genannt, zu einer wichtigen Institution kirchlicher Entwicklungshilfe entwickelte. 1963 konnte dann die Kirche und das Pfarrhaus mit grosser Beteiligung des Dorfes eingeweiht werden. Nicht zum Erfolg führte meine engagierte Mitarbeit im Vorstand des Vereins zur Errichtung einer thurgauischen Heimstätte auf dem Chapf ob Herdern.
Im neuen Pfarrhaus zog im Frühjahr 1968 meine Frau, Marianne Wampfler aus Zürich und gebürtig in der Lenk, ein. Gleich zu Beginn brachen wir zu einem gemeinsamen Studienaufenthalt an der Universität Tübingen auf. Die damaligen Studentenunruhen machten die Zeit in Tübingen besonders spannend. Der Aufbruch in der Folge des zweiten vatikanischen Konzils war ebenfalls spürbar. Den schönen Abschluss bildete unsere Hochzeitsreise nach Finnland. Noch vor unserer Heimkehr ergab ein Test, dass wir uns auf unser erstes Kind freuen durften: Andreas wurde 1969 geboren, Johannes 1970 und Elisabeth 1972.
Das Jahr 1973 wurde für unsere Familie bedeutungsvoll. Ich war in die Kirchgemeinde Herblingen in Schaffhausen berufen worden. Unser Umzug brachte die Auflösung des gemeinsamen Haushalts mit unserer Tante Alice und Hedi Preisig, die nach Stammheim zogen. Kaum etabliert, folgte wieder ein Militärdiensteinsatz, und die Einarbeit ins Pfarramt, das zwei Jahre vakant und nur teilweise mit Vertretungen besetzt war, forderte grossen Einsatz. Auch Mariann war gefordert, hatte sie doch neben unsern drei Kindern die verschiedenen Gruppen, die der Kirchenstandspräsident Emil Bosshart der Reihe nach ins Pfarrhaus einlud, zu bewirten.
Kurz nach den Sommerferien, am 13. August, brachte ein Herzinfarkt eine schlagartige Änderung. Nach einem längeren Spitalaufenthalt folgte eine Erholungszeit im Tessin. Auch nach der Rückkehr war ich noch krank geschrieben. Alle pfarramtlichen Dienste wurden durch Nachbarkollegen abgedeckt. Nun kam es mir besonders zugut, dass meine beiden Studienkollegen Helg und Stamm von der Zwingligemeinde einen grossen Einsatz leisteten. Um meine Arbeit zu erleichtern war schon zu Beginn ein Predigt-Dreierrhythmus vereinbart worden. So predigte jeder von uns zuerst in seiner Gemeinde, dann in der Nachbarkirche, um dann am dritten Sonntag frei zu bekommen. Lange Jahre hat dieses Modell uns Dreien Entlastung gebracht.
Als wir in Herblingen einzogen, wohnten rund 1700 evangelische Einwohner im Quartier. Gerade aber wurde heftig gebaut. Mariann betreute den Hoffnungsbund, hielt Sonntagschule und Jugendgottesdienste und war auch zuständig für die Evangelische Frauenhilfe. Später, als der Drittklassunterricht begann, wurde sie die erste Katechetin unserer Gemeinde. Angebaut ans Pfarrhaus war das Studierzimmer, und darunter die Gemeindestube. Da waren wieder wir Anlaufstelle und Abwart z.B. für das Geschirr-Abwaschen, jetzt allerdings mit der Maschine. Den Garten betreute jeweils ein Hobby-Gärtner, der reutete, was uns lieb war und stehen liess, was wir überflüssig fanden.
Wir hatten insgesamt eine gute Zeit in Herblingen. Dauerbrenner war allerdings das (noch fehlende) Kirchgemeindehaus, das uns schon als Pluspunkt vor der Anstellung verheissen worden war. Nach verschiedenen gescheiterten Anläufen machte uns die Stadt die Offerte, uns das alte Schulhaus Trüllenbuck zu überlassen. Bis zum Umbau konnten wir die alten Räume nutzen und für den kommenden Betrieb Erfahrungen sammeln. Rückblickend denke ich, dass diese bescheidenere, aber durchaus gute Lösung ganz bei der Kirche besser war. Besonders wenn wir daran denken, dass die evangelische Bevölkerung zurückgeht.
Das war aber während meiner Amtszeit anders! Sie wuchs. Und der Kirchenstand war sich dessen durchaus bewusst. Wir zogen den Gemeindeberater Walter Ritter zu, der ganz von der Ist-Situation ausgehend die personellen Bedürfnisse abklärte und dabei auch beispielsweise die Pfarrfrau einbezog. Das Resultat war eine administrative Entlastung durch die Schaffung eines Sekretariats und einer Gemeindehilfe-Stelle. Die (zusätzliche) pfarramtliche Halbstelle rundete das neue Personalkonzept ab. So waren wir dann auch bereit zur intensiven Nutzung der neu gewonnenen Kirchgemeinderäume.
Diese letzten Jahre in Herblingen waren eine schöne Zeit. Neben der Mitarbeit in der Gemeinde konnte Mariann wieder in ihren Beruf einsteigen. Im Kindergarten St. Peter, in Lohn, in Stetten und schliesslich im Bocksriet fand sie ganz verschieden geführte Kindergärten vor. Das galt auch für die zu betreuenden Kinder. Im Bocksriet waren es gerade einmal zwei Schweizerknaben, und die einzige Sprache im dortigen babylonischen Sprachengewirr war vorerst einmal die Zeichensprache.
Mein Hausarzt riet mir 1998 im Blick auf meine Gesundheit vom Weiterarbeiten ab, und da auch der Spezialist in Zürich diese Meinung teilte, wurde ich im Januar 1999 vorerst krank geschrieben. Auf Ende des Jahres trat ich dann zurück.
Da wir wussten, dass unsere Zeit in Herblingen über kurz oder lang zu Ende gehen würde, hatten wir uns bereits schon nach einer Bleibe umgesehen. 1999 konnten wir an der Plattenhalde in Schaffhausen in eine 4 ½ -Zimmerwohnung einziehen. Sonnenschein von Morgen bis Abend und ein prächtiger Blick in die Alpen, das wars.
Da Andreas unterdessen mit seiner Familie in Binningen wohnte und Elisabeth in der „Kommunität Diakonissenhaus Riehen“ lebte, schlugen sie uns vor, in ihre Nähe zu ziehen. Mir fiel es anfangs schwer, mich mit diesem Gedanken anzufreunden. Bei Mariann war das anders. Auf den 1. Mai 2013 konnten wir eine Dreizimmerwohnung mit Lift im Dorfzentrum mieten. Diesen Schritt ins Neue haben wir nicht bereut.
Nach kurzer Krankheit durfte Dilgion Merz am 7. Oktober 2018, wie seine Angehörigen liebevoll schrieben, „sich im Frieden ganz in Gottes Liebe und Geborgenheit hineingeben“.