Wer Werner Reiser predigen hörte, hat seine packende Auslegung biblischer Texte nie mehr vergessen. Er ließ sich weder einer orthodoxen noch einer liberalen Richtung zuord-nen und wurde vielleicht zuerst von manchen nicht verstanden. Mit seiner gedankenschar-fen und zugleich seelsorgerlich sensiblen Sprache gewann er aber quer durch alle kirchli-chen Gruppierungen viele Menschen. Ohne dass er je erbaulich wurde, baute er auf. Die Basler Kirche verdankt ihm viel.
Reiser stammte aus dem Zürcher Oberland. Vom Vater, einem Industriearbeiter, hatte er sein ausgeprägtes soziales Bewusstsein und von der Mutter, einer Weberin, das religiöse. Schon mit 14 Jahren wollte er Pfarrer werden. Er war es zuerst im aargauischen Reinach. Für zwei Jahre kam er dann als Studentenpfarrer ein erstes Mal nach Basel. Dann holte ihn die Steiggemeinde nach Schaffhausen. Als unsere Münstergemeinde die Fühler nach ihm ausstreckte, lehnte er zuerst ab. Zum Glück war aber die Pfarrwahlkommission hart-näckig. Mit einem gesunden Mass an Skepsis gegenüber der hohen Kanzel nahm er schließlich den Ruf doch an und wirkte hier von 1970-1990. Vier Jahre lang war er Spre-cher in der Fernseh-Sendung "Wort zum Sonntag". Und während acht Jahren unterrichtete er als Lektor die Predigtlehre an unserer theologischen Fakultät, die ihm 1984 die Ehrendoktorwürde verlieh.
Werner Reiser hatte ursprünglich nach seinem Theologiestudium in Göttingen beim Alttes-tamentler Walter Zimmerli über ein Thema zu den Psalmen promovieren wollen. Er brach aber die Arbeit daran ab. Ohne Zweifel hätte er das Zeug zum akademischen Lehrer ge-habt. Als Studentenpfarrer hat er später uns Theologiestudenten in Bibelkunde auf das propädeutische Examen vorbereitet. Es war etwas vom Besten, was ich während meines ganzen Studiums erfahren habe. Reiser war präsent und präzis, streng und zugleich hu-morvoll. Er erwartete, dass wir quer durch die ganze Bibel in groben Zügen den Inhalt je-des Kapitels auswendig wussten, in der Genesis und im Markusevangelium den jeder Pe-rikope. Wahrscheinlich war sein eigener Anspruch an sein akademisches Vorhaben zu hoch. Oder es war die Gabe der Sprachgewalt, die in ihm zur Entfaltung drängte, die stär-ker war als das wissenschaftliche Interesse.
So wurde Reiser ein phantasievoller Gemeindepfarrer und feinfühliger Seelsorger. In der Landgemeinde soll er zum Erntedankfest einen Kreiselheuer oder dergleichen in die Kir-che gebracht haben: Nicht nur die Sprache der Predigt, auch die symbolische Dimension der Liturgie durfte nicht in traditionellen Formen erstarren, sondern musste lebendig wei-terentwickelt werden. Unvergessen sind Momente wie die minutenlang ausgehaltene Stille am Anfang der Predigt über die Freunde Hiobs, die sieben Tage und Nächte schweigen. Obwohl er ein reformiert zurückhaltendes Verhältnis zur Kirchenmusik hatte und zuweilen mit seiner Distanziertheit fast kokettierte, waren seine Liedwahl für die Gottesdienste und gar seine Meditationen in den Konzerten der Münsterkantorei massgeschneiderte, unent-behrliche Teile des Ganzen. Seine Kollektenansagen entlockten der Gemeinde oft ein Schmunzeln und öffneten die Geldbeutel der sparsamen Basler. Zu Diskussionen über den pastoralen Talar - den schwarzen oder gar einen weissen! - pflegte er nur zu bemer-ken, ihn interessierten die Texte mehr als die Textilien. Wenn im Kirchenvorstand bei der Festsetzung der Kollektenziele das HEKS zu kurz zu kommen drohte, konnte er leiden-schaftlich werden. Reiser war – was manche, die ihn kannten, erstaunte – auch Feldpredi-ger und nahm die Chance wahr, die dieser Dienst dem Pfarrer bot. Und er war ein res-pektvoller, freundschaftlicher Kollege, von dem es sehr viel zu lernen gab, aber nie frère et cochon. Er wahrte auch dann, wenn man sich sehr nahe kam, die gebührende Distanz. Die Zeit mit ihm war für mich ein Geschenk.
Die Seelsorge eines Pfarrers ist für einen Kollegen nicht einsehbar. Aber aus Werner Rei-sers Briefen habe ich eine Ahnung davon bekommen, wie er im persönlichen Bereich mit dem Glauben umging. Eine Postkarte vor einem Jahr zeigt die Lithographie "Au seuil de l'Éternité" von Vincent van Gogh: ein alter Mann in grober Hose vornübergebeugt auf ei-nem Stuhl sitzend, den Kopf in die Hände gestützt. "Wir sind dem Boden nahe", schreibt er, "aber noch nicht ganz gekippt." Bis zuletzt die durchdringende Auslegung eines Textes (oder hier des Bildes) und der eigenen Befindlichkeit – aber an der Schwelle zur Ewigkeit!
Reiser hat fruchtbar publiziert: ungezählte Artikel "aus der Werkstatt der Evangelisten", prägnante Aphorismen im Nebelspalter und vor allem seine meistens weihnächtlichen Le-gendenpredigten. Diese haben ihn über die Grenzen Basels hinaus weitherum bekannt gemacht. Nach seinem Abschied vom Münster erschien seine Hiob-Auslegung: "Ein Rebell bekommt recht". Da lässt er am Schluss einen fiktiven Urenkel des Hiob sagen: "Ich bin nicht Hiob. Aber eines soll mich mit ihm verbinden, der unnachgiebige und unermüdliche Schrei nach dem wirklichen und lebendigen Gott. Damit möchte ich nie zu Ende kommen."
Franz Christ, Basel