Taktvolle Nähe und rollenklare Distanz

IP-3-2024-Karin-Iten (Foto: Mark Haltmeier)

Die Verunsicherung von Seelsorgenden rund um die Gestaltung von Nähe und Distanz hat durch die Missbrauchskrise im kirchlichen Kontext zugenommen.
Karin Iten
Das berechtige Einfordern von Null Toleranz rund um sexuelle Ausbeutung hat eine Schattenseite, die in der Prävention ebenfalls aufgefangen und bearbeitet werden muss: Die Angst- und Misstrauenskultur rund um Nähe. Eine solche Kultur zementiert das Schweigen und lähmt im Handeln – was wiederum kontraproduktiv ist für eine wirksame Prävention. Die Angst vor Fehlern in der Gestaltung von Nähe in der Seelsorge erschwert und untergräbt die Prävention, da sie Seelsorgende verstummen lässt. Prävention braucht indes Besprechbarkeit und Transparenz in einer tragenden Teamkultur.

Lernprozess und Fehlerkultur
Seelsorge bedingt Nähe – emotional, spirituell, manchmal auch körperlich. Neurobiologische Forschungen z.B. von Rebekka Böhme zeigen, dass sich Mitgefühl ab und an besser durch ein Streichen über den Oberarm transportieren lässt, als durch viele Worte. Zuwenig Nähe in einer kalten und herzlosen Atmosphäre ist ebenfalls feindselig – genauso wie zu viel Nähe. Doch was macht professionelle Nähe aus? Jan Volmer prägt in seinem Buch dazu den Begriff der „taktvollen“ Nähe. Takt bedingt den Sinn für das Richtige des Augenblicks und braucht ein Feingefühl für die Eigenart und das Eigenrecht des Gegenübers. Und: Taktgefühl wird kontinuierlich erlernt– und nicht in die Wiege gelegt. Anders ausgedrückt: Auch das Taktgefühl der Seelsorgenden ist ein lebenslanger Lernprozess – und reift durch Feedback und Resonanz. Wo Menschen sich mit existenziellen Fragen anvertrauen, haben sie den berechtigten Anspruch auf Seelsorgende, die an ihrem Taktgefühl feilen.  In einem Team, das in einer zugewandten Teamkultur rund um Nähe sprachfähig bleibt und sich explizit die Erlaubnis gibt, sich gegenseitig Feedback zu geben, schafft den Boden für eine Prävention, die Menschen auf allen Seiten trägt. Es ist relevant, dass gegenseitig auch aufmerksam rückgemeldet wird, wenn Nähe sorgsam gestaltet wird. Forschungen belegen, dass es fünf positive Feedbacks braucht, um ein kritisches Feedback entgegennehmen zu können. Und ein Reifen des Taktgefühls braucht unbedingt auch ab und an kritisches Feedback, denn Fehler gehören zu jedem Lernprozess. Taktvolle Nähe braucht Fehlerkultur. Null Toleranz gilt hingegen dort, wo die rote Linie der Demütigung oder Straftaten überschritten wird.

Besprechbarkeit und Rollenbewusstsein
«Die Kunst des Taktes liegt darin, das Bedürfnis des anderen nach Selbstschutz und innerer Balance wahrzunehmen und zu respektieren», schreiben der Psychotherapeut Günter Gödde und der Erziehungswissenschafter Jörg Zirfas in ihrem Buch «Takt und Taktlosigkeit». Seelsorge zu beanspruchen und darin von Sehnsüchten oder von spiritueller Not zu erzählen, bedeutet, verletzlich zu sein. Wer sich seelsorgerlich begleiten lässt, hat deshalb das Recht auf höchste Achtsamkeit der Seelsorgenden. Begleitung im Porzellanladen der Seele bedingt deshalb nicht nur Nähe, sondern auch Zurücknahme, Vorsicht und schützende Distanz. Die Verantwortung dazu liegt bei den Seelsorgenden. «Distanz zu halten, bedeutet, dem anderen Raum für sein Eigenes zu lassen, ihm niemals in den letzten Winkel seiner inneren Festung zu folgen», so schreibt der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri. Die Kunst der Balance zwischen Nähe und Distanz bedingt ein permanentes Oszillieren zwischen Authentizität und Reflexion – in einem wiederum angemessenen Takt, in einem sorgsamem Vor und Zurück. Gerade im Zusammenhang mit Nähe und Körperlichkeit gilt es, den privaten vom professionellen Kontext klar zu unterscheiden. Was in einer privaten Beziehung selbstverständlich ist, kann in einem seelsorgerlichen Abhängigkeitsverhältnis Grenzen verletzen. Der Kompass für achtsame Seelsorge ist immer auch Rollenbewusstsein, rollenklares Verhalten und viel Kommunikation bei Rollenübergängen.

Machtreflexion und Qualitätsstandards
Seelsorgende sind in einer Machtposition – status- oder funktionsbedingt. In der Gestaltung von Nähe darf die eigene Macht nicht ausgeblendet werden, da Fehlverhalten in einer Machtposition besonders schwer wiegt.  Je mehr Machtaspekte verdrängt werden, desto mehr kann Macht rund um Nähe entgleisen. Um in Machtpositionen nicht aus dem Takt zu fallen, braucht es die Einbettung der Seelsorgenden in ein Team mit klarem Rahmen. Risiken werden erhöht, wenn Seelsorgende als Einzelkämpfer*innen unterwegs sind. Taktvolle Bewegung gelingt dort am besten, wo Musik hörbar ist. Damit werden auch Dissonanzen und Taktlosigkeit wahrgenommen. Heisst: Um als Seelsorgende einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, sind transparente Qualitätsstandards und gegebenenfalls eine zeitnahe Korrektur durch die Leitung wichtig. Dies baut zugleich Schwellen ein, für jene Minderheit, die keine redliche Seelsorge anstrebt. Täter und Täterinnen gehen immer subtil und strategisch vor. Sie tasten sich taktierend vor – suchen Nähe, bevor sie taktlos die Grenzen zunächst der Privatsphäre, dann der Intimsphäre überschreiten. Genau deshalb muss das Risikomanagement rund um Nähe auch strukturell verankert sein – nicht individuell. Täter und Täterinnen suchen sich ihre Tatorte – und Organisationen lassen sie gewähren. Kirchen müssen vorausschauend und systematisch Schwellen setzen, damit Manipulation rund um Nähe erschwert wird. Grenzziehung und Qualitätssicherung rund um Nähe ist eine organisationale Aufgabe – keine individuelle. Und schon gar nicht die Aufgabe jener Menschen, die sich Seelsorgenden anvertrauen.
Bereitgestellt: 30.08.2024    
 
aktualisiert mit kirchenweb.ch
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