Missbräuche: Rückblick auf eine hitzige Debatte
Die EKS-Synode schlägt nicht oft hohe Wellen in der säkularen Medienlandschaft, aber in der Traktandenliste dieser Sommersynode im Juni verbarg sich Sprengstoff. Wobei – «sich verbergen» wäre das falsche Wort. Der Sprengstoff befand sich schon an der Oberfläche, spätestens seit die EKS-Präsidentin in einem Interview mit der NZZ am Sonntag vom 28. April eine Dunkelfeldstudie zum Umfang von Grenzverletzungen in Aussicht gestellt hatte
Christina Aus der Au
Die Synode sollte 1.6 Mio Franken dafür bewilligen, damit 20‘000 Menschen innerhalb und ausserhalb der Kirche nach ihren Erfahrungen mit sexuellem oder psychischem Missbrauch befragt werden können. Man wolle feststellen, in welchem gesellschaftlichen Umfeld die Missbräuche erfolgten und einen Beitrag dazu leisten, die die Täterprofile und Tatkontexte zu eruieren.
Differenziert und fair
Die Synode folgte diesem Antrag nach einer engagierten, aber differenzierten und fairen Diskussion nicht, sondern entschied sich, ihn abzulehnen. Das führte in der kirchlichen und der säkularen Presse prompt zu sehr plakativen und schlicht falschen Schlagzeilen wie «Stopp für Missbrauchsstudie bei der reformierten Kirche» (srf.ch), «Noch keine Aufarbeitung von Missbrauch bei der reformierten Kirche» (swissinfo.ch, nau.ch), «Reformierte lehnen Missbrauchsstudie ab» (kathbern.ch) oder «Le Synode de l’Eglise Protestante Refuse de Lancer une Etude sur les Abus Sexuels» (rts.ch)
Falsch!
Konsens
Es war unbestrittener Konsens, dass sich auch die evangelische Kirche diesem Thema stellen müsse – und auch wolle. Die Synodalen stiessen aber sich zum einen an der Tatsache, dass diese Studie schon in der Öffentlichkeit thematisiert wurde, bevor die Synodalen dazu Stellung nehmen konnten. Zum anderen monierten Kritikerinnen, so auch die «Femmes Protestantes» (ehemals «Evangelische Frauen Schweiz»), dass hier unter dem Absender der Kirche eine gesamtgesellschaftliche Studie aufgegleist würde, ohne dass sichergestellt sei, dass dort auch Unterstützung und Aufarbeitung geleistet würde. Die protestantischen Frauen warben daher dafür, dass das Studienprojekt unter Einbezug eines breiter aufgestellten Beteiligtenbeirats überarbeitet werde.
Nicht die Kirche: der Bund
Konkret beantragten deswegen Vertreter und Vertreterinnen von 13 Mitgliedkirchen, dass nicht die EKS, sondern der Bund eine solche gesamtgesellschaftliche Studie durchführen soll. Die EKS solle ihn dabei finanziell und personell unterstützen, aber die Federführung müsse beim Bund liegen. Ein unabhängiger wissenschaftlicher Beirat solle diese Studie begleiten und sicherstellen, dass Erhebung und Auswertung der Daten wissenschaftlichen Standards entspreche. Die EKS solle sich verpflichten, die gewonnenen Erkenntnisse in ihren eigenen Präventions- und Interventionsstrategien umzusetzen und auf eine gesamtgesellschaftliche Sensibilisierung hinzuwirken. Nur durch eine gesamtgesellschaftliche, umfassende und wissenschaftlich fundierte Untersuchung können Bund, Institutionen und Organisationen die richtigen Schlüsse ziehen und das Dunkelfeld des sexuellen Missbrauchs in der Schweiz nachhaltig erhellen.
Prävention, persönliche Integrität
Diesem Antrag wurde mit einer Mehrheit zugestimmt. Dazu beauftragten die Synodalen den Rat nochmals ausdrücklich, die Präventionsarbeit zum Schutz der persönlichen Integrität in ihren Mitgliedkirchen zu fördern und zu unterstützen und eine externe nationale Kontaktstelle für Betroffene zu schaffen. Dazu solle eine Arbeitsgruppe «Schutz persönliche Integrität» eingesetzt werden zwecks Prüfung einer internen Studie und/oder weiterer Massnahmenpakete sowie zur Begleitung laufender Projekte und Massnahmen der EKS zum Schutz der persönlichen Integrität.
Blick auf die Zukunft
Die Synodalen wollten also nicht weniger, sondern mehr! Eine breitere Abstützung der Studie mit einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nicht nur für die Datenerhebung, sondern auch für den Umgang mit den Menschen hinter den Daten! Und für die Kirche eine breiter aufgestellte, professionalisierte und spezialisierte Arbeitsgruppe, die den Blick nicht nur zurückwirft, sondern vor allem auch auslotet, was für die Zukunft getan werden muss. Wie kommt Machtmissbrauch frühzeitig in den Blick, wie erkennt man «hotspots» und vor allem: Wie kann Kirche aktiv an einer Kultur arbeiten, die keine Täter duldet, die den Betroffenen Raum gibt, über ihre Erfahrungen zu sprechen, die Mädchen und Frauen stärkt und die das Thema entstigmatisiert?
Mehr, nicht weniger! Zukunft, nicht nur Vergangenheit. Und vor allem mit den Menschen in den föderalen Strukturen der reformierten Landeskirche zusammen, nicht über ihre Köpfe hinweg. Das war die Aussage der Sommersynode.